0615 - Die Satans-Vision
einer Fußgängerzone. Da kam kein normaler Wagen durch. Die Anlieger besaßen Parkscheine für Tiefgaragen.
Weit war es nicht. Ich bekam dennoch etwas von dem Zauber der Altstadt mit, die im goldenen Glanz einer winterlichen Dezembersonne lag. Auch konnten wir uns an der klaren Luft erfreuen, doch innerlich waren wir beide aufgewühlt.
Anne Geron wohnte in einem schmalbrüstigen Gebäude, dessen Fassade einen rostroten Anstrich zeigte.
»Es ist alles noch sehr neu«, sagte sie beim Aufschließen der Haustür, »man hat wenigstens die alte Substanz gelassen, und ich fühlte mich unter dem Dach ausgesprochen wohl.«
»Eine Atelierwohnung?«
»Ja.«
Da es keinen Fahrstuhl gab, mußten wir die Stufen hochsteigen. In der letzten Etage wohnte Anne. Dort war der Hausflur noch enger geworden, und hier oben befand sich auch nur eine Wohnung.
Sie öffnete die Tür, ich folgte ihr auf dem Fuß, gelangte in eine winzige Vordiele, stellte dort den schmalen Aktenkoffer ab – und hörte Anne schreien.
Mit zwei Sätzen war ich bei ihr.
Sie stand in einem verhältnismäßig großen Zimmer, die Arme angewinkelt, dabei halb erhoben und die Hände zu Fäusten geballt.
Den Grund ihres Schreiens sah ich auf einen Blick.
Jemand hatte ihre gesamten Bilder brutal zerstört, regelrecht zerfetzt, und genau dort, wo sie gehangen hatten, war die Wand von großen Blutflecken bedeckt…
***
Wieder hatte das Grauen zugeschlagen. Allmählich waren es keine Visionen mehr, sondern eine verdammte Realität. Dieser Unbekannte, dieser Gesichtslose war aus dem Dunkel der Zeiten aufgetaucht, um sein Schreckensregiment zu verbreiten.
Das war schlimm.
Anne Geron schrie nicht mehr. Ihre Stimme war zu einem Wimmern erstickt. Wie eine Schlafwandlerin schritt sie durch ihre eigene Wohnung, den Blick gegen die Wände gerichtet und trotzdem ins Leere.
Sie schaute auf die zerstörten Bilder, wobei einige noch an der Wand hingen, aber nicht mehr zeigten als nur die Rahmen. Die Motive waren nur Stückwerk. Sie lagen entweder am Boden oder hingen noch als Fetzen am Rahmeninnern fest.
Als sich Anne auf einen Stuhl setzte, untersuchte ich eine Stelle an der Wand genauer.
Die rote Flüssigkeit klebte an ihr wie ein dicker Schmier. Es rann zudem in schmalen Bahnen dem Fußboden entgegen, aber das alles störte mich nicht mehr, wichtig war Anne und vor allen Dingen durfte sie nicht durchdrehen.
Was man dieser zarten Frau zugemutet hatte, war mehr, als jemand vertragen konnte.
Sie schaute nicht auf, blickte zu Boden und konnte nicht einmal weinen. Als ich meine Hand auf ihre Schulter legte, zuckte sie zusammen. »Es ist nicht so schlimm, Anne«, sagte ich leise. »Bilder kann man neu malen. Wichtig allein ist, daß Sie noch am Leben sind.«
»Ich?« Sie preßte für einen Moment die Augen zusammen. »Noch lebe ich, John, noch. Aber ich glaube, daß es bald vorbei damit ist. Man kann einfach nicht dem Grauen entrinnen, das ist unmöglich. Irgendwann breche ich zusammen, was mit meinem Tod enden wird, das müssen Sie mir glauben. So etwas kann man nicht immer ertragen.«
»Es wird aufhören.«
»Das sagen Sie so. Sie haben dieses Grauen noch nicht erlebt. Es ist, als würde Ihnen die Seele aus dem Körper getrieben, damit ein anderer von Ihnen Besitz ergreifen kann. Sie sind nicht mehr Sie selbst. Sie warten darauf, daß etwas geschieht. Nicht daß Sie es herbeisehnen, aber Sie wissen ja, daß es kommen muß. Und dann ist es da. Obwohl Sie darauf vorbereitet waren, sind Sie doch schockiert, weil Sie es einfach nicht fassen können. Ja, so ist es…«
Ich hatte sie sprechen lassen und mir dabei die Wände angeschaut, wo das Blut allmählich verschwand, wie von einem unsichtbaren Radiergummi entfernt.
Nur die Rahmen mit den zerfetzten Bildern hingen dort noch. In der Wohnung war es still. Anne saß da wie eine Fremde in den eigenen vier Wänden.
»Sie sollten jetzt einige Sachen zusammenpacken, damit wir fahren können.«
»Immer noch?«
Ich lächelte. »Sicher, das war vorgesehen. Hier werden wir den Fall kaum lösen können. Die Templer müssen uns…«
Ich brach ab, weil ich von draußen Schritte gehört hatte. Mir fiel ein, daß mein Aktenkoffer mit dem Beweisstück noch in der kleinen Diele stand.
Ich lief schnell hin und blieb wie angewurzelt stehen, als ich den Mann in der offenen Wohnungstür sah.
Er trug einen rehbraunen Mantel und hatte um seinen Hals einen Schal geschlungen. Hinter den Brillengläsern hatten seine Augen einen
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