0615 - Die Satans-Vision
Anne, konzentrieren Sie sich bitte auf eine bestimmte Figur. Die Szene soll meiner Ansicht nach Johannes den Täufer darstellen, wie er in der Wüste seine Getreuen tauft. Sie sehen hier Männer, die sich eingereiht haben und als letzte Figur eine Frau, die einen ungewöhnlichen Abstand hält.«
»Ja, das stimmt, aber was ist mit ihr? Die… die dunklen Flecken – ist das Blut?«
»Davon können wir ausgehen.«
»Wie bei mir, wie in meinen Visionen. Da sah ich auch Blut und Grauen.«
»Stimmt.«
»Wie kann die Figur bluten, John?«
»Darüber muß ich mir noch Gedanken machen. Schauen Sie sich nur die letzte Figur an, konzentrieren Sie sich bitte auf diese Frau und sagen Sie mir dann, ob Ihnen an ihr etwas auffällt, einmal abgesehen von dem Blut, das aus ihrem gemalten Körper gequollen ist.«
Anne Geron beugte sich über den offenen Koffer. Ich schaute mich inzwischen um, denn ich wollte keine Zeugen haben, die einen mehr oder weniger zufälligen Blick auf den Inhalt warfen. Die Gäste interessierten sich nicht dafür. Wenn sie sich unterhielten, dann leise, ansonsten starrten sie in ihre Gläser.
»Nun?« fragte ich nach einer Weile.
Sehr langsam hob die Lehrerin den Kopf. Sie sah bleich aus wie eine helle Plastik, und ich wußte, daß sie ebenfalls erkannt hatte, wer die Figur war.
»Ich kann es nicht sagen. Es ist… es ist …«
»Sie haben das Gesicht gesehen?«
Heftig nickte Anne. »Sogar ziemlich genau. Vielleicht zu genau. Es ist furchtbar. Bin ich das? Oder soll ich das sein?«
»Ja.«
Für einen Moment schloß sie die Augen, schwankte auch, und ich bekam Furcht davon, daß sie fallen könnte, deshalb stützte ich sie sicherheitshalber ab.
»Das… das ist mir einfach zu hoch«, hauchte sie. »Ich komme darüber nicht hinweg. Mein Gesicht, meine Gestalt – wieso? Wie ist das möglich, John, wie?«
Ich klappte den Deckel wieder zu. »Um das herauszufinden, bin ich von London nach Toulouse gekommen.«
»Hier wollen Sie es?«
»Mal sehen.«
»Nein, ich wüßte nicht…« Sie schluckte und schüttelte den Kopf.
»Es gehört doch Ihnen – oder?«
»Wenn Sie die Ikone meinen – ja.«
Anne zeichnete mit der Fingerspitze Kreise auf die runde Tischplatte. »Wissen Sie, was ich nicht verstehe, John?« Sie sprach sofort weiter. »Meine Visionen bezeichne ich als satanisch. Dieses Bild aber zeigt doch ein frommes, wenn nicht sogar biblisches Motiv. Dabei ist ein gewaltiger Widerspruch, das kann nicht sein.«
»Und doch stimmt es!«
Sie räusperte sich. »Die Ikone, die Sie mir gezeigt haben, ist sehr alt. Ich bin zwar keine Kunsthistorikerin, aber ich habe mich während meines Studiums mit diesem Gebiet etwas beschäftigt. Jetzt frage ich mich, wie ich persönlich als Figur auf diese alte Ikone gezeichnet bin. Damit ist die Taufszene entstellt.«
»Eine Antwort kann ich Ihnen jetzt auch nicht geben, Anne. Ich sage mal so: Es ist eine magische Manipulation gewesen, und zwar schon vor einigen Hundert Jahren.«
»Das glaube ich nicht!« erwiderte sie spontan.
»Es spielt keine Rolle, Anne.« Ich hob die Schultern. »Um die Wahrheit herauszufinden, fuhr ich nach Frankreich. Allerdings wollte ich mir hier in Toulouse nur einen Leihwagen nehmen, um weiterzufahren.«
Ihr Gesicht bekam einen enttäuschten Ausdruck. »Dann können Sie mir nicht helfen?«
»Doch, Anne, wir werden uns beide helfen können, indem Sie mit mir nach Alet-les-Bains fahren.«
»Dorthin? Das liegt in den Bergen.«
»Ich weiß.«
»Was wollen Sie denn da?«
»Freunde von mir besuchen. Sie leben in Alet-les-Bains.«
»Wer?«
»Templer.«
Sie war historisch gut auf der Höhe. »Der alte Orden, der im vierzehnten Jahrhundert zerschlagen wurde?«
»Genau der. Es gibt ihn noch, keine Sorge, auch wenn er sich gespalten hat.«
»Was haben die Templer mit der Ikone zu tun?«
»Sie war ein Teil eines gewaltigen Templer-Schatzes. Mehr kann und will ich Ihnen darüber nicht sagen, Anne. Es ist wirklich besser, wenn Sie nicht alles wissen.«
»Wenn Sie meinen…«
»Haben Sie ein Fahrzeug, Anne?«
»Nein, ich bin ohne.«
»Okay, dann besorge ich mir einen Leihwagen. Vielleicht sollten wir noch bei Ihnen zu Hause vorbeifahren und einige Dinge zusammenpacken. Es kann sein, daß wir übernachten müssen.«
»Bei den Templern?«
»Bestimmt.«
Sie sagte nichts mehr und wandte sich ab. Gezahlt hatten wir und verließen das Bistro. Die Filiale einer Mietwagenfirma lag etwas abseits, deshalb mußten wir in einen
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