0615 - Die Satans-Vision
mißtrauischen und verwunderten Ausdruck angenommen.
Ich nahm den Koffer hoch und nickte dem Mann zu.
»Wer sind Sie?« fragte er.
Ich sagte meinen Namen und erkundigte mich, ob er Pierre Rodin wäre.
»Ja, natürlich, Sie kennen mich?«
»Anne erzählte von Ihnen. Sie sagte auch, daß Sie vorbeikommen wollten.«
»Stimmt. Was haben Sie mit ihr zu tun?«
»Ich bin ein Bekannter.«
»Ausländer, wie ich höre.«
»Ja, aus London. Ich kam rein zufällig vorbei und beschloß, ihr guten Tag zu sagen.«
»Kann ich zu ihr?«
»Bitte.«
Ich gab den Weg frei.
Ohne mich eines Blickes zu würdigen, schritt er an mir vorbei in den Wohnraum hinein, von wo aus ich seinen leisen und erstaunten Schrei vernahm.
Wahrscheinlich hatte er die Bilder gesehen und war deshalb von der Rolle.
Als ich ihm folgte, sah ich ihn neben Anne knien und ihre Hände halten. »Anne, bitte, rede, warum hast du deine Bilder zerstört? Was ist in dich gefahren?«
Sie ging gar nicht auf seine Frage ein. »Du… du bist so spät gekommen, Pierre.«
»Ich konnte nicht früher, tut mir leid.«
»Schon gut.«
»Anne, bitte, was ist mit den Bildern. Weshalb hast du sie zerstört?«
Die Antwort gab ich. »Das war nicht sie.«
Er fuhr hoch und herum. »Nicht Anne? Wer dann?«
»Wir wissen es nicht.«
»Ein Einbrecher – oder?«
Ich hob die Schultern. »Das kann schon sein, Monsieur Rodin. Es ist eben alles möglich.«
Er schaute mich lange an. »Ich möchte Sie etwas fragen«, sagte er schließlich.
»Bitte.«
»Hat Anne Ihnen von ihren Problemen erzählt? Von den Halluzinationen?«
»Wir sprachen darüber.«
»Wie ist Ihre Meinung?«
»Ich weiß nichts Genaues. Wie gesagt, es war ein zufälliger Besuch. Ich kenne Anne Geron aus London. Wir haben uns auf einer Ihrer Studienreisen kennengelernt.« Mit dieser Antwort baute ich der Lehrerin eine Brücke, über die sie schreiten konnte. Hoffentlich spielte sie mit.
»Dann kennen Sie Anne nicht genau?«
»So ist es.«
Rodin rieb sein Kinn. »Auch wir kennen uns erst seit gestern. Es waren, wenn man es objektiv sieht, keine glücklichen Umstände für sie. Ich habe einmal erlebt, was geschieht, wenn sie ihre Visionen bekommt und muß sagen, daß ich hilflos bin.«
»Glauben Sie ihr denn?«
»Ja und nein. Ich habe vorgeschlagen, daß sie einen Arzt aufsucht und von ihren Problemen berichtet. Es gibt ja genügend Psychologen und Nervenärzte.«
»Das ist nicht schlecht«, erwiderte ich nickend. »Aber glauben Sie, daß es etwas bringt?«
»Davon bin ich überzeugt. Man kann sie mit ihrer Angst einfach nicht allein lassen.«
Ich runzelte die Stirn. »Es wäre auch interessant, herauszufinden, wo sich die Quelle all dieser schrecklichen Visionen befindet. Meinen Sie nicht auch?«
»Genau, nur können wir das nicht. Ich jedenfalls traue es mir nicht zu.« Er wandte sich wieder an die Lehrerin. »Wie wäre es, Anne, wenn du mich begleitest?«
»Wohin?« Sie schaute hoch.
»Zu einem Arzt. Ich habe heute morgen Bekannte angesprochen und mir einen entsprechenden Fachmann empfehlen lassen. Doktor Villefort ist hier in der Stadt eine Kapazität.«
Ich hoffte nur, daß Anne mitspielte und sich nicht überreden ließ.
Unsere Pläne waren wichtiger.
»Nun?«
»Ich weiß nicht, Pierre…«
»Doch, Anne, du mußt. Außerdem werde ich bei dir bleiben. Ich gehe mit dir.«
Die junge Frau drehte den Kopf nach rechts, um mich anzuschauen. In ihren Augen las ich die Unentschlossenheit. Der Auftritt dieses Mannes war nicht gut gewesen.
»Anne. Sie wissen, daß wir zusammen den Tag verbringen wollten. Das war klar.«
»Sind Sie denn verrückt?« rief Rodin. »Sie haben doch gesehen oder sehen noch, was mit ihr los ist. Da können Sie nicht herkommen und einfach mit ihr weggehen. Sie braucht einen Arzt. Sie muß einfach in ärztliche Behandlung.«
»Dazu wäre morgen ebenfalls noch Zeit.«
»Da kann es zu spät sein.«
»Kennen Sie sich so gut aus?« fragte ich den Besucher.
»Nein, aber ich habe mit ihr einige Zeit verbracht und erlebt, wie schrecklich alles sein kann. Sie können sagen, was Sie wollen. Für Anne ist es am besten, wenn sie bei mir bleibt. Nicht wahr?«
Anne stand auf. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Sie ging zum Fenster und schaute gen Himmel. »Ich stecke in einer Zwickmühle. Die Dinge, die ich gesehen habe, gingen nur mich persönlich etwas an, glaube ich. Und ich denke ferner, daß mir kein Arzt dabei helfen kann. Ich selbst muß lernen, sie zu überwinden. Was
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