0615 - Die Satans-Vision
Seitenflügel des Bahnhofs. Anne schritt rechts neben mir her und hielt den Kopf gesenkt. Als sie stehenblieb, stand auch ich still.
»Was ist los?«
Sie winkte ab. Ihre Unterlippe zitterte, die Augen waren unnatürlich weit geöffnet. »Ich… ich glaube, es geht wieder los. Ich sehe etwas, es kommt näher.«
»Wer, was?«
Sie duckte sich, als hätte sie einen Schlag erhalten. »Die Mordgestalt aus meinen Visionen. Aber sie ist echt, glaube ich. Nicht mehr nur im Traum. Himmel, ich…«
Auf dem Absatz machte sie kehrt und rannte weg. Ich konnte sie nicht mehr halten, weil ich die beiden Koffer trug.
»Anne!« brüllte ich hinter ihr her. »Anne, bleiben Sie stehen! Laufen Sie nicht weg!«
Sie hörte nicht. Mit schnellen Schritten rannte sie weiter, als säße ihr der Teufel im Nacken. Wer so reagierte, mußte etwas Schreckliches erleben.
Sie nahm keine Rücksicht auf die Menschen in der Halle, stieß sie zur Seite, duckte sich noch tiefer, als wollte sie in einen Tunnel kriechen und drehte sich dann um, weil sie sich ein neues Ziel ausgesucht hatte.
Es war eine schmale Tür, die zu einer Damentoilette führte. Wuchtig riß sie die Tür auf und sprang über die Schwelle. Als ich sie erreichte, war sie bereits wieder zugefallen.
Die Koffer hielt ich fest, stellte den größeren ab und hämmerte gegen die Tür.
Ich hörte Anne schreien.
Es war mir egal, ob ich in die Damentoilette rannte oder nicht. Ich mußte sie da rausholen.
Sekunden später sprang ich in den Raum, in der rechten Hand die Beretta, in der linken den schmalen Aktenkoffer.
Anne Geron stand im Waschraum. Sie sah schrecklich aus. Vom Kopf bis zu den Füßen rann das Blut. Drei Waschtische reihten sich aneinander. Auf dem Boden lag Papier. Das alles nahm ich wie nebenbei wahr.
Wichtiger waren die drei Spiegel über den Tischen. In allen dreien zeichnete sich eine fürchterliche Gestalt ab, die mir aus Annes Erzählungen bekannt war.
Der Unheimliche mit dem Messer!
***
Ob Messer oder Kurzschwert, das war nicht entscheidend. Jedenfalls hielt er die Mordwaffe umklammert und sah so aus, wie ich ihn mir hatte vorstellen müssen.
Eine Gestalt, die in ein pechschwarzes Trikot gehüllt zu sein schien. Nur das helle, bleiche Gesicht schimmerte durch, die ebenfalls bleichen, knochigen Hände und natürlich die Waffe, deren Klinge auf mich den Eindruck eines langen Blitzes machte.
Jetzt, wo ich ihn zum erstenmal sah, konnte ich mir die Angst der Anne Geron gut vorstellen. Wer von einer derartigen Mordgestalt bedroht wurde, der konnte nur so empfinden.
In mir verkrampfte sich einiges. Ich hatte den Eindruck, die Zeit würde stehenbleiben. Die dreimalige Gestalt in den verschiedenen Spiegeln wich plötzlich zurück, bevor ich noch die Waffe heben und auf die Fläche feuern konnte.
Sie war relativ klein gewesen, verringerte sich noch mehr und war verschwunden.
Genau in dem Augenblick brach der Bann. Mit einem Seufzer sank Anne zusammen.
Und das Blut verschwand.
Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als es wie von Geisterhänden weggewischt wurde. Das hatte ich noch nie erlebt, nur eben gehört. Anne hatte nicht gelogen.
Soeben noch hatte ich sie abstützen können. Sie lag auf meinem Arm, ich drehte mich um, denn von der Tür her hörte ich Geräusche. Wuchtig wurde sie aufgerissen, zwei Uniformierte betraten in Begleitung einer Frau die Toilettenräume. Als sie Anne und mich sahen, blieben sie stehen.
»Was suchen Sie hier?« fuhr mich die Frau an.
»Ich habe dieser Dame nur geholfen.«
»Wobei?«
»Fragen Sie nicht so dumm! Ich hörte sie schreien. Sie ist krank, zum Henker!«
Die Frau wurde nach draußen gedrückt, denn die beiden Bahnpolizisten waren vernünftiger. Sie erkundigten sich, an welcher Krankheit die Frau litt und wollten auch einen Rettungswagen kommen lassen.
»Merci, aber das ist nicht nötig. Wir… wir haben uns lange nicht mehr gesehen, es war wohl die Freude über das Treffen, die meine Bekannte dermaßen überraschte.«
»Sollen wir Ihnen das glauben?«
»Ich weiß es nicht, aber es entspricht den Tatsachen.«
»Gut, dann brauchen Sie keinen Arzt.«
»Nein, außerdem kommt sie schon wieder zu sich.« In der Tat öffnete Anne die Augen, flüsterte einige Worte, die nur ich verstand, und wurde von mir auf die Beine gestellt. Sie stützte sich beim Gehen bei mir ab, als wir den Raum verließen.
Mein Koffer stand noch da, wo ich ihn abgestellt hatte. Den anderen trug ich.
Die Bahnpolizisten hatten noch
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