0615 - Die Satans-Vision
hat es für einen Sinn, wenn ich einem Psychiater von meinen Problemen berichte? Er wird sich wundern oder auch nicht, wird vielleicht Fragen stellen, mir Psychopharmaka verschreiben und mir ansonsten kein Wort glauben.«
»Du hast dich also entschieden?« fragte Rodin.
Anne drehte sich um. »Ja, Pierre. Sei mir nicht böse, aber ich werde nicht zum Arzt gehen. Nicht heute jedenfalls.«
Er nickte. »Gut, ich habe verstanden. Dann bin ich hier wohl überflüssig.«
»Nein, Pierre, so darfst du das nicht sehen.«
Er streckte ihr seine Hand abwehrend entgegen. »Keine Sorge, Anne, ich habe dich voll und ganz verstanden. Ich habe es gut gemeint und…«
»Das weiß ich doch, aber du mußt auch mich verstehen.«
»Sicher.« Er lächelte krampfhaft. »Du kannst mich ja anrufen, wenn dein Besuch wieder weg ist.« Nach diesen Worten drehte er sich um und verließ fluchtartig die Wohnung.
Anne lief ihm nach. »So warte doch, Pierre. Sei nicht verbockt. Ich habe dich…«
»Schon gut!« hörte ich ihn aus dem Flur rufen. »Schon gut…«
Dann war er verschwunden.
Anne kehrte mit schleppenden Schritten zurück. Sie machte auf mich einen verzweifelten Eindruck, hob die Schultern, und ich sah, wie sie weinte. »Habe ich jetzt einen Fehler gemacht?« fragte sie mich.
»Nein, Sie haben sich richtig entschieden. Der Arzt kann Ihnen die Lösung nicht präsentieren.«
»Aber Sie?«
»Möglich.«
»Pierre war so komisch«, flüsterte sie, »so anders, wirklich. Ich habe gedacht, daß er mehr Verständnis für mich aufgebracht hätte. Da bin ich enttäuscht.«
»Sie dürfen es ihm nicht übelnehmen, Anne, das dürfen Sie auf keinen Fall. Wer mit diesen unheimlichen Dingen nicht laufend zu tun hat, kann einfach nicht anders handeln. Das müssen Sie schon begreifen. Mir würde es nicht anders ergehen.«
»Wahrscheinlich.«
»So – und jetzt packen Sie Ihre Sachen zusammen, dann können wir fahren.«
»Ist gut.«
Anne Geron verschwand durch eine schmale Tür und ließ mich allein zurück. Ich dachte über Pierre Rodins Besuch nach. Okay, sie mochte den jungen Mann, aber ich hatte ihr nicht ganz die Wahrheit gesagt. So lässig er sich auch gab, zugleich Besorgnis zeigte, ich an seiner Stelle hätte nicht so gehandelt und meine Freundin zu einem Arzt in Behandlung geschickt. Andererseits war Rodin ein normaler Mensch mit einem normalen Beruf. Mein Beruf war es nicht.
Sie kehrte wieder zurück. Rechts trug sie eine Reisetasche mit bunten Aufklebern darauf.
»Ist das alles«, fragte ich.
»Ja, ich möchte nichts mehr mitnehmen. Aufräumen kann ich später noch, falls es das für mich gibt.«
Ich lachte sie an. »Weshalb sollte es das für Sie nicht geben, Anne?«
»Keine Ahnung, John, aber haben Sie schon einmal Momente erlebt, wo Sie sich auf den Tod vorbereiten?«
»Ja, das habe ich.«
Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet und staunte mich aus großen Augen an. »Wie… wie haben Sie denn reagiert?«
»Ich kämpfte dagegen an.«
»Das kann ich nicht.«
Ich lächelte ihr zu. »Vielleicht nicht als Einzelperson. Gemeinsam werden wir es schaffen.«
»Das kann ich nur hoffen.«
Wir verließen die Wohnung, und Anne schloß die Tür zweimal ab.
Dann strich sie durch ihr langes Haar und fragte: »Ob ich dieses kleine Reich noch einmal wiedersehe?«
»Bestimmt.«
Wir verließen das Haus und gingen dorthin, wo ich meinen Wagen abgestellt hatte.
Den Weg nach Alet-les-Bains kannte ich und hoffte, den kleinen Ort noch vor dem Dunkelwerken zu erreichen.
***
Der Raum war karg möbliert, aber das störte den blinden Abbé nicht, der auf seinem Lieblingsplatz saß, vor dem großen Tisch, und die Unterarme auf die Platte gelegt hatte.
Der Mann trug eine dunkle Brille und hatte die Hände leicht gekrümmt. Beide Flächen umfaßten einen bestimmten Gegenstand, der für ihn, den Blinden ungemein wichtig war.
Der Würfel des Heils!
Es war ein magischer Gegenstand, ein violettfarbener Würfel, in dem eine starke Magie steckt, die es dem Blinden ermöglichte, zu sehen. Allerdings nicht so, wie die Menschen sahen. Der Abbé erkannte die metaphysischen Vorgänge, er schaute mit Hilfe des Würfels hinter die Dinge und nahm Strömungen auf wie ein Seismograph die Erdbebenwellen.
In der letzten Zeit war es etwas ruhiger um ihn und die Gruppe der Templer geworden, aber das würde sich ändern, wie der Abbé wußte.
Bloch hatte es einfach gespürt. Der Würfel war sein Leiter gewesen. Er hatte die fremden, gefährlichen
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