062 - John Flack
habe schon Tee getrunken, aber ich nehme niemals Milch dazu«, sagte der Diener, und Mr. Reeder schenkte ihm eines seiner seltenen Lächeln.
»Das ist der Grund, Peters«, sagte er, »warum Sie noch leben und gesund sind. Bringen Sir mir den Rest der Milch und eine frische Tasse Tee. Auch ich werde in Zukunft auf - hm - lakteale Flüssigkeit verzichten.«
»Mögen Sie keine Milch?« fragte der Diener verdutzt.
»Ich trinke gern Milch«, sagte Mr. Reeder freundlich, »aber ich ziehe Milch ohne - hm - Strychnin vor. Ich glaube, Peters, wir haben eine sehr interessante Woche vor uns. Haben Sie Verwandte?«
»Ich habe eine alte Mutter, Sir«, erwiderte der Mann, der immer weniger begriff.
»Dann sind Sie besser daran als ich. Ja, ja - wir werden eine sehr interessante Woche vor uns haben, glaube ich.«
Und diese Annahme war völlig gerechtfertigt.
8
London erfuhr die Nachricht von John Flacks Ausbruch und nahm sie je nach Temperament mit Furcht oder Entrüstung auf. In seiner Mitte weilte ein Mörder, ein Mann, dessen Verbrechen allgemeines Aufsehen erregt hatten. Das war kein angenehmes Gefühl für den ruhigen Bürger. Und die Nachricht war schon über eine Woche alt. Warum hatte Scotland Yard die Öffentlichkeit nicht schon früher unterrichtet? Warum wurden Nachrichten von derartigem Allgemeininteresse totgeschwiegen? Wer war verantwortlich, daß eine so wichtige Nachricht unterdrückt wurde? Die Sensationsblätter brachten diese Fragen in Leitartikeln mit fettgedruckten Überschriften. Der Bericht über den Vorfall in der Bennet Street wurde eingehend besprochen, und zu seiner größten Verlegenheit fand sich Mr. Reeder im Brennpunkt des öffentlichen Interesses.
Mr. Reeder hatte die Angewohnheit, allein in seinem kleinen Büro in der Abteilung des Generalstaatsanwalts zu sitzen und stundenlang nichts anderes zu tun, als die Daumen zu drehen und trostlos auf das unbefleckte Weiß des Löschblattes zu starren.
In diesem besonderen Augenblick waren seine Gedanken völlig von seinem neuesten und zugleich ältesten Feind in Anspruch genommen.
Ursprünglich bestand Flacks Bande aus drei Mitgliedern - John, George und Augustus -, und sie hatten mit ihrer Tätigkeit zu einer Zeit begonnen, in der es als technische Leistung galt, das Schloß eines Geldschrankes herauszubrennen.
Augustus Flack wurde von dem Nachtwächter der Carrs Bank in Lombard Street getötet, als er den Versuch machte, das Gewölbe, das das Gold enthielt, zu berauben. George Flack, der jüngste von den dreien, kam durch einen Einbruch in Bond Street auf zehn Jahre ins Zuchthaus und starb dort, und nur John, das wahnsinnige Genie der Familie, entging der Entdeckung und Verhaftung. Er war es, der O. Sweizer, den ›Yankee-Bankräuber‹, in die Bande aufnahm; der Adolphe Victoire an sich zog, und diese wiederum zogen andere zur Teilnahme an dem guten Werk nach sich. ›Klaps-John-Flack‹ besaß die erstaunliche Fähigkeit, in der denkbar kürzesten Zeit die besten Köpfe der Verbrecherwelt um sich zu versammeln. Wenn auch der Rest der Flackfamilie tot war, die Organisation war stärker denn je, weil irgendwo im Hintergrund dieses ausbalancierte Gehirn lauerte.
So standen die Angelegenheiten, als Mr. Reeder den Fall übernahm. Er wurde ihm übertragen, nicht etwa, weil die Londoner Polizei versagt hatte, sondern weil der Generalstaatsanwalt eingesehen hatte, daß die Aushebung der Flack-Bande eine langwierige Aufgabe sein würde, die die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Mannes beanspruchen würde.
Die Verbindungsmänner der Bande abzuschneiden, war eine verhältnismäßig leichte Aufgabe gewesen.
Mr. Reeder faßte O. Sweizer, diesen starken Amerikaner Schweizer Abstammung, als er und ein Unbekannter eines Sonntagmorgens beschäftigt waren, einen Geldschrank aus dem Postamt in der Bedford Street fortzuschaffen. Sweizer wollte Widerstand leisten, aber Reeder hatte ihn etwas zu schnell gepackt.
»Lassen Sie los!« keuchte Sweizer auf italienisch. »Sie erwürgen mich ja. Reeder.«
Mr. Reeder legte ihn aufs Gesicht und fesselte ihm die Hände auf den Rücken, dann packte er ihn beim Kragen, stellte ihn auf die Beine und kam seinen beiden tüchtigen Kollegen zu Hilfe, die mit dem andern beschäftigt waren. Victoire wurde eines Abends im Carlton verhaftet, als er dort mit Denver May beim Dinner saß. Er leistete keinen Widerstand, da die Polizei ihn auf eine erdichtete Anklage hin verhaftete, die er, wie er wußte, widerlegen konnte.
»Mein
Weitere Kostenlose Bücher