062 - Schiff der verlorenen Seelen
gaben uns ein leckes Wasserfaß. Das ganze Wasser ist ausgelaufen."
Ich sah mir das Faß an. Wir konnten jetzt nur hoffen, daß uns bald ein Schiff begegnete oder wir Land sichteten oder daß es wieder zu regnen begann.
Alraune machte die Hitze nichts aus. Sie weigerte sich, das Leinentuch überzuziehen, das Arbues mitgenommen hatte.
Ich konnte meinen Blick von Alraune nicht abwenden und spürte, wie ich immer mehr in ihren Bannkreis geriet, wie ich verhext wurde.
Sie sah mich an und lächelte. Arbues blieb nicht verborgen, welche Blicke sie mir zuwarf.
„Laß die Hände von ihr!" zischte er.
Doch ich hörte nicht auf ihn. Alraune saß neben mir, und ihre weichen Hände liebkosten meine Wangen und meine Schultern. Ich vergrub meine Hände in ihrem seidigen Haar und küßte sie zärtlich auf die Lippen. Ich dachte nicht mehr daran, welch unheimliches, unfertiges Geschöpf sie war, dachte nicht daran, daß sie kein Mensch war, sondern ein Pflanzenwesen. Das war alles gleichgültig geworden.
„Auseinander!" knurrte Arbues. „Alraune gehört mir! Ganz allein mir! Laß sie augenblicklich los!" Er gab mir einen Stoß in den Rücken, packte mich an den Schultern und riß mich herum.
„Du gehörst mir, Alraune!" schrie er mit rot unterlaufenen Augen. „Ganz allein mir! Und kein anderer Mann darf dich berühren. Hast du mich verstanden?"
„Nein", antwortete das Mädchen. „Ich verstehe dich nicht, Arbues. Gestern sprachen wir über Liebe. Du sagtest, Liebe ist, wenn mir ein Mann so gut gefällt, daß ich ohne ihn nicht leben kann. Liebe ist, wenn ich immer bei ihm sein will und mich nach seiner Berührung sehne. Und das trifft alles zu. Ich liebe Georg."
Arbues ließ die Hände sinken und blickte das Mädchen finster an.
„Ich habe dich erschaffen", flüsterte er. „Du gehörst mir. Kein anderer Mann wird dich besitzen."
Er bückte sich, griff nachdem Entermesser und wandte sich mir zu.
„Es bleibt mir keine andere Wahl, Georg", sagte er und holte mit der Waffe aus.
Ich warf mich zur Seite. Das Entermesser verfehlte mich. Er hob die Waffe wieder, da griff Alraune ein. Sie sprang ihn an, und ihre Augen glühten. Arbues griff sich an die Stirn und brach zusammen. „Ist er tot?" fragte ich.
Alraune schüttelte den Kopf, „Nein, er kann sich nur nicht bewegen. Er wird uns nicht mehr stören." Ich blickte in ihre Augen, und die Welt versank um mich; nur noch sie existierte.
Ich nahm sie in die Arme, und sie flüsterte mir zärtliche Worte ins Ohr. Sie drängte sich eng an mich. Ich spürte ihren aufreizenden Körper. Wir liebten uns, bis es dunkel wurde. Erst als sie sich aus meiner Umarmung löste, wurde mir bewußt, wie durstig ich war. Meine Zunge schwoll an. Sie streichelte mich, doch auch das half nichts. Ich verging vor Durst.
Am nächsten Tag wurde es noch schrecklicher. Die Sonne brannte unbarmherzig auf uns hernieder. Alraune wurde auch schwächer. Sie brauchte Nahrung, doch sie zögerte.
Irgendwann schlief ich ein. Als ich erwachte, konnte ich nur noch stammeln. Alraune hockte neben mir.
Dann verlor ich das Bewußtsein.
„Das war es", sagte Dorian.
„Aber das ist doch nicht der Schluß!" sagte Jeff. „Bist du nun gestorben oder wurdest du gerettet? Was geschah mit der Alraune?"
„Ich starb nicht", sagte Dorian. „Ich weiß nicht, wie lange wir im Boot trieben. Ich erwachte an Bord einer Karavelle, die vor Santa Domingo ankerte. Der Kapitän erzählte mir, daß sie uns vor vier Tagen gefunden hätten. Ich wäre bewußtlos gewesen. Im Boot hätte sich der halb verweste Körper eines Mannes befunden, der seltsam eingetrocknet gewesen wäre."
„Und die Alraune?"
„Sie war auch im Boot", antwortete Dorian. „Sie konnte nicht sprechen und war so schwach, daß sie sich kaum bewegen konnte. Wir wurden an Bord gebracht. Ich erwachte nicht aus meiner Bewußtlosigkeit. Der Schiffsarzt bezweifelte, daß ich mit dem Leben davonkommen würde. Alraune erholte sich relativ rasch. In Santa Domingo verließ sie das Schiff. Sie wurde nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich glaubte sie, ich sei tot. Sie hat mir damals in dem kleinen Boot das Leben gerettet. Dunkel kann ich mich erinnern, daß sie Arbues Körper berührte und mir die andere Hand vors Gesicht hielt. Und aus ihrer Hand tropfte Wasser auf meine Lippen."
„Du willst damit doch nicht andeuten, daß sie Arbues' Körper das Wasser entzogen hat und es dir..." „Genau das will ich damit sagen", bestätigte Dorian.
Einige Sekunden lang
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