0621 - Die Vergessene von Avalon
persönlich leider nicht dahinterstehen. Mir ist etwas anderes eingefallen. Bis unsere Besucher eintreffen, wird Zeit vergehen. Wie wäre es, wenn wir beide die nutzen. Ich möchte mich gern umschauen. Ich will hier alles sehen, auch das Gewölbe, das besonders.«
Melu blieb gelassen. »Du willst tatsächlich in den Keller gehen, Brian?«
»Genau.«
»Da liegen meine Eltern.«
»Weiß ich ja.«
Das blinde Mädchen stand auf. »Gut, ich kann es dir nicht verbieten, laß uns gehen. Allerdings möchte ich dich warnen. Du wirst so etwas nie zuvor gesehen haben.«
Er hob die Schultern. »Klar doch, ich bin auf Neues immer gespannt. Wenn du mir den Weg zeigst, gehe ich vor, dann…«
»Nein, nein, ich kenne mich aus.«
»Muß ich Kerzen mitnehmen?«
»Nicht nötig.«
Brian Fuller war gespannt. Dieses Gewölbe mußte etwas ganz Besonderes sein. Er hätte auch in die Glotze schauen können, dazu jedoch war er zu unruhig. Er wollte selbst etwas erleben, unternehmen und deshalb den Keller besichtigen.
Melusine de Lacre ging vor. Ihre Schritte waren kaum zu hören.
Sie schien über den Boden zu schweben. Bestimmt hatte sie lange geübt, um derart leise gehen zu können.
Wieder waren sie hinein in – den breiten Flur getreten. Sie passierten zahlreiche Türen und tauchten nach links weg in einen schmalen Gang, der hinter einer scharfen Ecke lag.
Eine mit brauner Farbe bestrichene Bohlentür versperrte ihnen den weiteren Durchgang.
Melu war stehengeblieben, ohne daß sie die Tür berührt hätte.
»Dahinter beginnt die Treppe, die uns in das Gewölbe bringen wird.«
»Dann mal los.« Fuller griff an dem Mädchen vorbei und öffnete die Tür.
Aus dem Spalt strömte ihnen kühle und muffige Luft entgegen.
Brian Fuller verzog das Gesicht. Er hatte schon so etwas wie einen Vorgeschmack von dem bekommen, was ihn in der Tiefe erwartete.
Zunächst einmal mußte er über die breite Treppe gehen und wunderte sich, wie sicher die Blinde die Stufen nahm. Melu hatte keine Schwierigkeiten mit der Treppe. Ihre Hand rutschte dabei über ein Geländer, und sie schritt außerdem einem flackernden Kerzenschein entgegen, der im Keller ein unruhiges Licht verströmte, das sich auf dem Steinboden ebenso verteilte wie an den dunklen Wänden.
Der Begriff Gewölbe traf durchaus für diese Räumlichkeiten zu, denn es waren Pfeiler vorhanden, die eine Decke abstützten.
Keller kannte Brian Fuller anders. Vollgestopft mit Gerumpel, mit Kohlen oder Weinflaschen.
Hier stand nichts, bis auf zwei Dinge, über die er bereits informiert war.
Die beiden Särge!
Sie bildeten einen Mittelpunkt, um den herum sich die zahlreichen Kerzen gruppierten. Manche standen zu sechst in schalenförmigen Ständern und bildeten regelrechte Inseln. Andere wiederum hatten einzelne Plätze gefunden. Der geschmolzene Wachs war in langen Bahnen an den Außenseiten der Kerzen nach unten gelaufen und hatte sich nach dem Erkalten festgesetzt, so daß jede Kerze eine lange Tropfenbahn aufwies.
Es roch nach Rauch und kalten Kerzendochten. Eine Atmosphäre, wie sie auch in den Grüften bekannter Kirchen und Dome herrschte.
Eine Lücke gab es in dem Kerzenreigen, und genau die steuerte das blinde Mädchen an.
Abermals konnte sich Fuller nur wundern, wie Melu es schaffte, den Weg zu finden. Das war schon etwas Besonderes, er hätte das nie fertiggebracht und mußte schon jetzt höllisch achtgeben, nicht mit den Flammen in Berührung zu kommen.
Sie tanzten vor seinen Augen und schufen daher eine unwirkliche Welt innerhalb des Gewölbes. Fuller war kein ängstlicher Mensch, aber er spürte, wie sich ein Schauer auf seinem Rücken bildete, als er in die Kerzeninsel hineinblickte und dort die beiden Särge sah, die von tanzenden Lichtreflexen und auch huschenden Schatten lautlos überspült wurden.
Das war für ihn nicht faßbar. Sein Hals trocknete aus. Die rechte Hand umklammerte den Messergriff, wobei er sich plötzlich lächerlich vorkam und sie wieder wegnahm.
Melu stand, von ihm aus gesehen, hinter den Särgen und hatte ihren Blick auf ihn gerichtet.
Sie sagte kein Wort, sie wartete nur, die Lippen zu einem leichten Lächeln verzogen.
Brian Fuller war stehengeblieben. Um seine Lippen zuckte es.
Mehrmals schon hatte er angesetzt, um zu sprechen, nur war es ihm nicht gelungen, ein Wort oder eine Frage zu formulieren. Diese Umgebung war ihm einfach zu fremd und unheimlich.
Melusine de Lacre hob beide Arme gleichzeitig an und streckte die Zeigefinger aus.
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