0622 - Das Monstrum von der Nebelinsel
Ahnherrn nicht zu glauben. »Wenn der Gral sich auf der Insel befindet und ich durch sie und ihn mein Augenlicht zurückbekommen habe, dann darf ich Avalon doch wohl einen Besuch abstatten?«
»Sie steht dir offen, Melusine. Sie steht jeder de Lacre offen, weil ich den Weg fand.«
»Danke.« Melu brannten noch zahlreiche Fragen auf der Zunge, aber sie stellte nur eine »Sag mir, was du für eine Aufgabe wahrgenommen hast? Bitte…«
Julien de Lacre ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Er überlegte sich jedes Wort »Ich bin der Hüter, der Aufpasser der Insel, die Person, die dafür sorgt, daß nur bestimmte Menschen die Insel betreten dürfen. Die de Lacres gehören dazu.«
Melu nickte einige Male »Und wenn andere auf die Insel kommen wollen? Was machst du dann?«
»Dann werde ich zuschlagen. Unwürdige haben kein Recht, einen Fuß auf die Insel zu setzen. Die dürfen Avalon nicht einmal sehen. Muß ich noch mehr erklären?«
Melu schüttelte den Kopf. »Ich habe verstanden.« flüsterte sie gegen den Wind, »ja, ich habe verstanden.«
»Du aber kannst fahren, du bist eine Person, die dazu gehört. Du darfst dich auf der Insel bewegen, und ich wünsche dir viel Glück, meine Teure. Wir werden uns sehen, das verspreche ich dir.«
»Wo willst du hin?« fragte sie schnell, als sie sah, daß der Schattenkrieger in die Höhe stieg.
»Ich habe einen weiten Weg vor mir. Ich bin der Wächter, ich gebe acht. Betritt die Insel, meine Liebe, und dich werden die Arme des Paradieses umschlingen.«
Es waren seine letzten Worte, denn ein gewaltiger Windschwall brauste auf und trieb Pferd und Reiter davon.
Melu wischte über ihre Stirn. Sie bewegte Arm und Hand zeitlupenhaft, als wäre sie dabei, darüber nachzudenken, ob sie nur geträumt oder dies alles tatsächlich erlebt hatte.
Nein, es war kein Traum gewesen. Sie konnte sehen! Das Augenlicht war ihr zurückgegeben worden! Sie sah das Licht, den Himmel, das Wasser und die Insel.
Noch immer umgab sie der Nebelring. Melu fürchtete sich nicht davor. Sie ging davon aus, daß der Nebel ihr, einer de Lacre, eine Lücke schaffen würde, um sie auf das Eiland zu lassen.
»Avalon erwartet mich«, sprach sie sich selbst Mut zu und tauchte die Stange wieder ins Wasser.
So ruderte sie weiter dem Ufer entgegen. Einem geheimnisvollen Gestade, von dem sie bisher nur gehört oder höchstens geträumt hatte. In ihr war stets eine Hoffnung gewesen, irgendwann einmal den Weg auf die Insel finden zu können.
Glasklar schimmerte neben ihr das Wasser. Es war so wunderbar für sie, das Meer zu sehen. Bisher hatte sie es nur hören können. Mal sanft, dann wieder brüllend und donnernd, als hätten Hunderte von Raubtieren ihren Käfig verlassen.
Es war alles so herrlich, so einfach, wenn man die richtige Chance ergriff.
Fische entdeckte sie keine, wenn sie über die Bordwände schaute.
Dafür sah sie die dunklen Flecken, die sich auf dem Grund des Meeres ausgebreitet hatten.
Felsen, die vom sandigen Boden hochwuchsen und durch die Brechung des Wassers verzerrt wirkten.
Melu hatte sich die Entfernung kürzer vorgestellt. Aber die Strömung ließ sie auch jetzt nicht im Stich. Wie unterstützende Arme brachte sie das Boot und die junge Frau in Richtung Avalon, wo Melu die alte Heimat finden sollte.
Sie konnte erkennen, daß das Wasser allmählich flacher wurde.
Zum Greifen nahe erschien ihr der Meeresboden. Wellen überrollten sich und schäumten.
Schon bald berührte die Ruderstange den Grund. Sie sank ein in den weichen Sand, der beim heftigen Herausziehen des Gegenstandes zu Wolken aufquoll.
Dann wehte ihr der Nebel entgegen. Nicht kalt und klamm wie in ihrer Welt, er war warm wie das Wasser und gab Melu das Gefühl einer nie erlebten Geborgenheit.
Die Wellen rollten an das Ufer heran, als könnten sie es nicht erwarten, daß der neue Gast endlich die Insel betrat. Unter dem Kiel knirschte bereits der feine Ufersand. Ein letzter Schub, dann noch einer, das Boot lief auf.
Geschafft! dachte Melu, und diesmal glänzten ihre Augen. Sie hatten sich völlig verändert. Die Pupillen leuchteten in einem dunklen Blau. Tief im Hintergrund tanzten Reflexe wie sich heftig bewegende Sterne.
Melu stieg aus dem Boot und setzte zum erstenmal einen Fuß auf die Nebelinsel.
Sie öffnete sich vor ihren Blicken, hieß sie willkommen, und Melu kam es vor, als wollte das Eiland sie umarmen.
Sie fiel auf die Knie, berührte mit der Stirn den Boden, als sie sich vorbeugte und flüsterte: »Ich
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