0622 - Das Monstrum von der Nebelinsel
bin da… ich bin zurückgekehrt in meine Heimat.«
Was sie als Erbe in der alten Welt hinterlassen hatte, daran verschwendete sie keinen Gedanken, und erst recht nicht an ihren unfreiwilligen Helfer, John Sinclair…
***
Ich schrie!
Nein, ich schrie nicht. Ich hatte einfach nur das Gefühl zu schreien oder schreien zu müssen, obwohl aus meinem Mund nur mehr ein Krächzen drang.
Statt dessen starrte ich in den Spiegel, wo ich ein Gesicht sah, das mir schlimmer vorkam als die ärgste Monsterfratze.
Um wie viele Jahre konnte ich gealtert sein? Um zwanzig, nein, das waren mehr. Mindestens dreißig Jahre, denn mein Gesicht sah schlimm aus, wie ich mich fühlte.
Der oft benutzte und abgestandene Begriff einer verlorenen Jugend kam mir in den Sinn. Nein, jugendlich war ich nicht mehr gewesen, aber im Vergleich zu dem, was mir aus dem Spiegel entgegenschaute, hätte ich mich so bezeichnen können.
Über einer schlaff gewordenen, fast welken Gesichtshaut wuchs das eisgraue Haar wie ein drahtiger Wirrwarr. Ich betrachtete meine Augen und sah sie ohne Energie. Ein müdes Paar starrte mir entgegen, so daß ich Angst vor mir selbst bekam.
Ich dachte daran, mit welchen Bewegungen ich durch die Wohnung gelaufen war. So kraft- und lustlos. Jetzt wußte ich die Erklärung. Ich war nicht nur im Gesicht gealtert, sondern auch körperlich ein alter Mann geworden.
Jahrzehnte waren innerhalb eines Sekundenbruchteils verflossen.
Nicht erklärbar oder nur dann, wenn man diese Tatsache mit Magie in einen Zusammenhang brachte.
Und noch eine Enttäuschung traf mich mit vernichtender Wucht.
Ich war nicht durch einen magischen Bannspruch gealtert, sondern durch die Aktivierung eines Gegenstandes, der mir gehörte, um den ich gekämpft hatte und der sich seit einiger Zeit in meinem Besitz befand. Der Dunkle Gral hatte mich derart enttäuscht, daß mir für eine Erklärung einfach die Worte fehlten.
Für mich war er zu einem Hoffnungsträger geworden, aber das lag zurück. Ich wußte auch nicht, ob es sich je wieder ändern würde, denn der Gral war verschwunden.
Melusine de Lacre hatte ihn mitgenommen – oder er sie. Da war ich mir nicht sicher.
Der Name brannte sich als zweiter Begriff in meinem Hirn fest.
Mein Gott, ich hatte der jungen Frau vertraut. Ich hatte sie aus ihrem Haus in meine Wohnung mitgenommen und somit wohl den größten Fehler meines Lebens begangen. Auszubügeln war da nichts mehr, jedenfalls würde ich als alter Mensch dazu nicht in der Lage sein.
Als alter Mann!
Erst jetzt kam ich dazu, über diesen Vergleich nachzudenken.
Mich durchfuhr der Schreck wie eine heiße Messerklinge, deren Spitze sich in mein Herz bohrte.
Ein alter Mann!
Nicht mehr gegen die Mächte der Finsternis kämpfen. Der lächerliche Vergleich mit »in Rente gehen« fiel mir ein. Aber nicht für mich, denn ich war ein Mensch, dem die andere Seite einen Ruhestand nicht zugestehen würde.
Ich hatte sie zu lange bekämpft, und jeder wartete nur darauf, mich wehrlos zu sehen.
Angefangen über die Kräfte der Hölle, mit Asmodis an der Spitze, dann weiter über die Baphomet-Templer bis hin zu Will Mallmann, der sich Dracula II nannte und dabei war, ein weltumspannendes Vampirreich aufzubauen. Für sie alle würde ich eine leichtere Beute sein.
Beinahe lächerlich kam mir mein Kreuz vor, das mich nicht beschützt hatte.
Meine Lippen zuckten. Auch sie waren welker geworden. Ich fiel nach vorn, weil ich den Eindruck hatte, die Beine wurden unter mir nachgeben. Am Waschbecken stützte ich mich ab. Plötzlich drehte sich alles vor meinen Augen, der Schmerz blieb, mir wurde übel, doch ich konnte nicht dagegen ankämpfen.
Dafür schaffte ich es, mich umzudrehen. Mein Blick fiel auf eine Flasche Rasierwasser, die mir Jane Collins vor kurzem geschenkt hatte. Ich machte den Arm lang, umfaßte die Flasche mit der rechten Hand, drehte mich, holte aus und stieß einen irren Schrei der Wut und Enttäuschung aus, als ich die Flasche gegen den Spiegel schleuderte.
Der Schrei echote noch nach, als der verdammte Spiegel in unzählige Teile zersplitterte und mein Gesicht förmlich zerfetzt wurde. Ich empfand es als Glück, von keinem der nadelscharfen Splitter getroffen zu werden, ging keuchend einen Schritt zurück und wäre fast in die Wanne gefallen. Mit ausgestreckten Armen stützte ich mich an der Wanne ab, hielt mich noch auf den zitternden Beinen, die vor Angst und Schwäche unter mir nachgaben.
Ich mußte mich einfach setzen, fiel auf den
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