0624 - Die Tränen der Baba Yaga
Unsitte pflegten nur Amerikaner, die von Trinkkultur in Sachen Whisky kaum mehr verstanden als John Wayne ihnen in seinen Wildwestfilmen vorgeführt hatte.
Zamorra nippte am Glas und genoß es, den winzigen Schluck über die Zunge gleiten zu lassen.
»Vielleicht ist es wieder einer von ihren heimtückischen Tricks«, überlegte er. »So wie damals, als sie mich davon ablenken sollte oder wollte, daß Stygia in der Zwischenzeit den Lachenden Tod befreite und irgendwas mit den Thessalischen Hexen kungelte…« [2]
»Von denen wir nie wieder etwas gehört haben, und der Lachende Tod sitzt meines Wissens ja wohl auch wieder irgendwo gefangen. Daß wir ihm zwischenzeitlich noch einmal begegnen mußten, war ja nicht in der Gegenwart, sondern während unseres Zeitpendelns, als wir den verrückten Don und seinen Gnom in seine Zeit zurückbrachten…« [3]
Zamorra nahm einen etwas größeren Schluck. Auch eine Episode, an die er sich weniger gern erinnerte…
»Vielleicht ist die Hexe wieder für Stygia aktiv?« überlegte Nicole.
Er zuckte mit dem Schultern. »Dafür war sie seinerzeit eigentlich etwas zu erleichtert. Ich habe ihren Schrei noch im Ohr: Ich bin frei! Das klang gerade so, als habe sie sich aus einer Abhängigkeit lösen können, die sie niemals wieder über sich ergehen lassen wollte… Nein, ich bin fast davon überzeugt, daß sie diesmal auf eigene Rechnung aktiv ist. Die Träume… die Erinnerungen an damals… vielleicht sollen sie mich nur wieder mal aufschrecken und zum Eingreifen motivieren…«
Er setzte das Glas wieder ab.
»Aber Tränen«, murmelte er. »Hexentränen… die gibt's doch nicht! Da stimmt doch etwas nicht!«
»Zerbrich dir später darüber den Kopf«, riet Nicole. »Wenn du ausgeschlafen bist.«
Sie faßte nach seiner Hand und zog ihn sanft in Richtung Tür.
»Glaubst du im Ernst, daß ich jetzt schlafen kann?« fragte er kopfschüttelnd.
»Hier im Kaminzimmer bestimmt nicht«, sagte sie. »Aber irgendwo in dieser kärglichen Hütte soll es vagen Gerüchten zufolge in einem kleinen Zimmerlein ein kleines Bettchen geben… und«, sie grinste ihn spitzbübisch an, »…zur Not werde ich dich schon schlafmüde kriegen!«
Zamorra seufzte.
»Danach ist mir jetzt nicht«, erwiderte er.
Sie grinste. »Wollen wir doch glatt mal ausprobieren…«
***
»Es gab einen Anruf«, sagte Raffael Bois, der alte Diener, als Zamorra und Nicole sich zum spätmittäglichen Frühstück im Speisezimmer sehen ließen. »Monsieur Mostache bat um Ihr schleuniges Erscheinen und fügte hinzu, sowohl er als auch sein Gast seien recht ungeduldig.«
»Sein Gast?« Zamorra runzelte die Stirn.
»Wetten, daß es sich um Asmodis handelt?« schlug Nicole vor. »Habe ich recht, zahlst du meinen nächsten Boutiquenbummel, irre ich mich, erkläre ich mich bereit, die nächsten drei Tage textilfrei herumzulaufen…«
»Tust du doch sowieso meistens«, sagte Zamorra. »Die Wette ist nicht gut. Zumal ich auch vermute, daß es sich um Sid Amos handelt.«
»Spielverderber«, murrte Nicole.
»Wer spielt hier? Kann ich mitspielen?« tönte eine Stimme von der Tür her. Jungdrache Fooly stürmte herein, ausnahmsweise ohne dabei erheblichen Flurschaden anzurichten.
»Nein!« erklärten Zamorra, Nicole und Raffael gleichzeitig entschieden.
»Das ist aber gemein!« behauptete Fooly. »Immer wollt ihr den ganzen Spaß für euch allein haben! Das ist nicht fair!«
Zamorra legte dem etwa 1,20 m großen, wohlbeleibten Drachen den Zeigefinger auf die lange Krokodilnase, genau zwischen die Nasenöffnungen, aus denen bereits dünne Rauchfäden quollen. »Wie alt bist du, MacFool? Hundert Jahre?«
»So ungefähr.«
»Dann sollte dir deine hundertjährige Lebenserfahrung sagen, daß es nichts auf der Welt gibt, das fair ist.«
»Lebenserfahrung? Ich bin doch erst hundert Jahre jung!« krähte Fooly entrüstet. »Wie hätte ich in dieser kurzen Zeit so etwas wie Lebenserfahrung sammeln können?«
»Für deine Jugend und mangelnde Lebenserfahrung verstehst du dich aber schon sehr gut zu verkaufen«, sagte Nicole.
»Verkaufen? Ich verkaufe mich nicht! Für keinen Preis der Welt, und wenn er noch so hoch wäre! An nichts und niemanden niemals nicht!« empörte sich der Jungdrache. »Äh, Mademoiselle Nicole, welchen Preis würde ich denn erzielen können? Ich meine, rein theoretisch!«
»Du müßtest wohl eher noch Geld mitbringen«, behauptete Raffael.
»Ich habe die Mademoiselle gefragt!« fauchte Fooly
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