063 - Das Verrätertor
und blieben an dem kleinen Bücherschrank hängen. Sie biß die Zähne zusammen und ging schnell über den weichen Teppich. Zitternd nahm sie den kleinen Schlüssel aus ihrer Handtasche und öffnete…
Leer! Mit offenem Mund starrte sie hinein.
Sie schrak auf und wäre fast umgesunken. Aus dem Stuhl stieg eine dünne Wolke bläulichen Rauchs auf.
»Wollen Sie nicht bitte die Tür schließen? Es zieht.«
Die Stimme klang sanft und gedämpft.
Sie blickte starr zum Kamin hin und zog dann verzweifelt einen kleinen Browning aus ihrer Tasche.
»Rühren Sie sich nicht«, sagte sie. »Ich – ich habe eine Waffe.«
Aus dem Stuhl erhob sich ein schlanker, grauhaariger Herr.
Ein Paar große, dunkle Brillengläser verdeckten sein schönes Gesicht. Zwischen den Zähnen hielt er eine große Pfeife. Er war im Abendanzug, jedoch war sein Rock aus schwarzem Samt.
»Kommen Sie und setzen Sie sich – kommen Sie ans Feuer«, sagte er. »Sie müssen naß sein.«
Sie zögerte und ging dann langsam näher, die zitternde Hand um die Pistole gekrampft.
»Rühren Sie sich nicht!« Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder. Dann hörte sie ein tiefes Lachen.
»Ich vermute, Sie haben einen Revolver oder etwas ähnlich Dramatisches in der Hand? Wie können Sie nur! Aber wollen Sie nicht wirklich die Tür schließen? Ich bin gegen Kälte sehr empfindlich.«
Sie ging zur Tür. Hier war eine Gelegenheit – sollte sie fliehen? In wenigen Sekunden konnte sie aus dem Haus sein.
Aber er hatte sie gesehen, und es wäre ihrer unwürdig gewesen, diesen Weg zu gehen. Seltsam, daß die Frage der Würde in einem solchen Augenblick überhaupt in Betracht kommen konnte.
Die Tür schloß sich, und sie ging zu dem Kamin zurück. Er hatte sich wieder gesetzt, die Pfeife zwischen den Zähnen, das Gesicht der Glut zugewandt.
»Sie kamen durch die Hintertür? Ich hätte das Schloß ändern lassen sollen. Wollen Sie sich nicht setzen?«
Sie zögerte.
»Ach, ich weiß, daß Sie eine Frau sind«, fuhr er mit seiner weichen Stimme fort. »Ich hörte das Rauschen Ihres Kleides, obwohl es natürlich ein Regenmantel sein wird. Was wünschen Sie?«
Sie feuchtete die Lippen an, ihre Kehle war ausgetrocknet. Zweimal setzte sie an, bevor sie sprechen konnte.
»Ich wollte etwas holen – das ich in diesem Zimmer vermutete. Nichts – Wertvolles… für irgend jemand außer mir. Können Sie denn nicht sehen… und erraten?«
Er lächelte leise.
»Ich kann wohl raten, aber nicht sehen. Ich bin blind.«
Er sagte das in so ruhigem, sachlichem Ton, daß sie eine Zeitlang diese Tatsache gar nicht begriff.
»Blind?« sagte sie dann leise. »Oh, ich bin… Das tut mir sehr leid.«
Und doch war sie erleichtert. Er konnte sie nicht sehen – und würde sie also niemals wiedererkennen, wenn sie ihm noch einmal begegnete.
- »Ich wollte Sie wirklich nicht berauben«, sagte sie. »Nur – ich meine Verwandten verließen dieses Haus letzten Sommer und ich ließ hier etwas zurück, von dem niemand außer mir etwas wissen sollte.«
Sie fühlte sich sicherer. Sie wußte, daß in den Sommermonaten Monk’s Chase einer reichen amerikanischen Familie überlassen worden war.
»Ah, Sie gehören zur Familie Osborn, nicht wahr? Nun gut, gnädige Frau, nehmen Sie bitte das, was Sie suchen. Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«
Sie sah noch einmal zu dem offenen Bücherschrank hinüber.
»Es ist schon fortgenommen worden«, sagte sie. »Und nun will ich wieder gehen, ja?«
Er erhob sich und schritt mit ihr quer durch den Raum. Seine Finger berührten die Möbel, an denen er vorbeiging. Sie wandten sich nach rechts, gingen durch die Halle und kamen zu dem kleinen Seitengang. Einen Augenblick stand er mit ihr außerhalb der Hintertür, und der Regen tropfte auf beide nieder.
»Gute Nacht«, sagte er. »Hoffentlich werden Sie nicht zu naß.«
Er wartete, bis er ihre eiligen Schritte nicht mehr hörte, dann wandte er sich um, verschloß und verriegelte die Hintertür und kehrte in die Bibliothek zurück.
Als er eintrat, machte er alle Lichter an und ging zum Kamin. Fünf Minuten lang saß er bewegungslos, seine Stirn lag in tiefen Falten. Dann stopfte er langsam seine Pfeife, entzündete sie, setzte die dunkle Brille ab, nahm eine Zeitung vom Stuhl auf und fuhr in seiner Lektüre fort, die durch das Knarren der Hintertür unterbrochen worden war. Und er las ohne Hilfe eines Glases die kleinsten Buchstaben.
5
»Arme Hope Joyner!« murmelte er zwischen den
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