063 - Das Verrätertor
In der Hand hielt sie einen Bogen weißes Papier. Abwechselnd las sie und blickte dann wieder nach der Villa. Diana sah, wie der Gärtner eine Bewegung machte.
»Sie geht quer durch Rectory Field«, sagte er. Die dicke Frau war verschwunden. »Ich will der alten Katze doch einmal einen Schrecken einjagen.«
Wie der Blitz war er aus dem Zimmer, und nach einigen Sekunden sah ihn Graham über die Straße eilen, mit einer Büchse unter dem Arm. Während er lief, steckte er Patronen in die beiden Läufe.
Der Fußpfad durch Rectory Field kürzt den Weg zur Esher Road ab, aber man gewinnt nicht viel Zeit dabei. Mawsey ging einen besseren Weg bis zum Ende einer Föhrenpflanzung. Dort verlangsamte er seine Schritte. Plötzlich sah er, wie Mrs. Ollorby auf dem gelben Sandweg weit ausschritt, kaum zwanzig Meter von ihm entfernt. Grinsend hob er das Gewehr an die Schulter, und gleich darauf krachten zwei Schüsse. Sie gingen hoch, denn er wollte sie nur erschrecken. Als er sah, wie Mrs. Ollorby sich duckte, wollte er sich totlachen. Aber seine Freude dauerte nicht lange. Der große Strickbeutel, den sie unter dem Arm trug, fiel zu Boden, und sie hatte eine Waffe in der Hand.
Wieder krachte ein Schuß.
Er stand starr, als er das Mündungsfeuer aus ihrer Pistole zucken sah. Das Geschoß schlug gegen den glatten Stamm einer Föhre, prallte dort ab und surrte dicht an seinem Kopf vorbei. Er sprang sofort zurück und fuchtelte mit den Händen in der Luft.
»Was machen Sie da?« schrie er sie an.
Mrs. Ollorby kam auf ihn zu, die Pistole in der Hand. Ein heiteres Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
»Erzählen Sie nur nicht, daß Sie mich mit einem Vogel verwechselt haben!« Während sie dies sagte, hob sie die Hand. »Ich bin ein Vogel in ungewöhnlichem Sinne – eine alte Krähe –, aber eine, die wiederschießt!«
»Was, zum Teufel, tun Sie?« stieß der Mann hervor. Er war totenbleich. »Ich wollte nur einen Scherz machen und Sie erschrecken, das ist alles…«
»Lache ich denn nicht?« fragte Mrs. Ollorby. Sie stand vor ihm, ihre dicke Hand auf die Hüfte gestützt. Der Lauf der Pistole stand seitlich ab wie ein gestutzter Schwanz.
Sie machte einen komischen, aber dennoch herausfordernden Eindruck. Ihr Hut hing auf der Seite und bedeckte fast das eine Auge; ihr Gesicht war tief rot und mit Schweiß bedeckt. Sie hatte ein vielfältiges Doppelkinn, und es schien ihm, als bekäme sie plötzlich wie ein Truthahn vor Ärger einen Fleischkragen. Aber sie lachte nur und war durchaus nicht erschreckt.
»Wenn ich dächte, daß es ein Mordversuch von Ihrer Seite war, würde ich Sie gleich zur Kingston-Polizeistation mitnehmen. Aber ich sehe, daß es nur Dummheit war.«
Sie setzte ihren Hut gerade, brachte eine Haarsträhne, die ihr über die Stirn gefallen war, wieder in Ordnung und besah ihre vom Pulver geschwärzte Hand.
»Seien Sie jetzt vernünftig«, sagte sie plötzlich, wandte sich um und ging wieder dorthin zurück, wo sie ihre große Tasche hatte fallen lassen.
Er stand wie festgewurzelt, bis sie hinter der großen Pflanzung von Sutton Holme verschwunden war. Dann erst ging er zurück und bemerkte Graham, der aufgeregt und besorgt mitten auf der Straße stand.
»Was haben Sie gemacht?« fragte er heftig.
»Ich wollte sie nur etwas erschrecken«, brummte der Mann.
»Sie erschrecken! Ich hörte drei Schüsse-«
»Sie hatte eine Pistole«, sagte Mawsey verdrießlich. »Und, Hallowell, Sie brauchen dem Direktor nichts davon zu erzählen.« Graham versprach ihm das nicht. Er ging zu Diana ins Frühstückszimmer zurück und erzählte ihr von dem üblen Scherz des Gärtners. Sie nickte langsam.
»Ich werde jetzt schnell zur Stadt zurückfahren«, sagte sie. »Die alte Ansicht, daß alle Verbrecher Narren sind, scheint sich wieder einmal zu bestätigen. Soll ich die Sache Tiger erzählen, oder willst du es übernehmen?«
»Es ist besser, wenn du es tust«, sagte Graham. »Wenn er sich auf die Hilfe dieses Mannes verlassen will, kann er die Geschichte nicht früh genug erfahren.«
Diana verließ gleich darauf die Villa, und als sie ihre Wohnung erreichte, wartete der Mann, den sie dringend zu sehen wünschte, schon auf sie. Sie war trotzdem ein wenig erstaunt, daß Tiger so unvorsichtig war, sie am hellen Tag zu besuchen. Es war der erste Besuch, den er in ihrer Wohnung machte, und sie war etwas verwirrt. Er schien ihre Gedanken zu erraten, als sie in den Empfangsraum trat und ihn in einem Sessel bei der Lektüre einer
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