063 - Das Verrätertor
sind doch sicher zwei gute Gründe, nicht wahr?«
»Ich bewundere Offenheit, selbst bei Ihnen«, lächelte Colley.
»Was werfen Sie mir eigentlich vor?«
Trayne antwortete ihm sofort, – und er gebrauchte dabei ein Wort, das das schlimmste war, was er Colley Warrington sagen konnte. Und diesmal hatte er ihn getroffen. Colley wurde blaß, nur zwei hektisch rote Flecken waren auf seinen Wangen zu sehen.
»Das Wort kann ich nicht hören«, sagte er scharf.
»Deswegen sage ich es ja. Hätte ich es selbst dem gemeinsten Dieb gegenüber gebraucht, so würde er sofort auf mich geschossen haben, und das mit Recht. Aber ich weiß kein anderes Wort, das besser auf einen Mann paßt, der Frauen so schamlos ausbeutet wie Sie, Warrington. Und wenn Sie jetzt nichts dagegen haben, möchte ich meinen Brief zu Ende schreiben.«
Colley Warrington verließ den Mousetrap-Klub zitternd vor Wut – nicht das erstemal in seinem Leben hatte Tiger eine seiner empfindlichen Stellen getroffen. Er sann auf einen Weg, wie er diesem großen Verbrecher schaden könnte, aber obwohl er den rasenden Wunsch hatte, sich zu rächen, war doch seine Furcht vor der weitverzweigten Organisation Tiger Traynes noch größer.
Er hätte sich die Unruhe und Mühe sparen können, Rachepläne auszuhecken, denn das Schicksal wollte es, daß er und Tiger Trayne einander nie mehr begegnen sollten.
16
Der Morgen des Sechsundzwanzigsten zog herauf, nicht freudig und fröhlich, sondern düster und grau. Ein weißlicher, dünner Dunst lag über den Wassern der Themse. Darüber wölbte sich ein schwerer Himmel mit dunklen Wolken. Gegen zwölf Uhr verwandelte sich das feine Rieseln in einen richtigen langweiligen Landregen, der den ganzen Nachmittag über anhielt.
An solchen Tagen ist der Tower verzweifelt trostlos. Der kleine Exerzierplatz ist leer und verlassen. Besucher kommen nur ganz vereinzelt. Die Posten stehen in den Schilderhäusern. Die Aufseher mit den farbenfreudigen langen Röcken verschwinden in Torwegen oder Kiosken, wo sie Schutz vor dem Wetter finden.
Der Regen fiel noch, als Dick Hallowell mit seiner Mannschaft vom Exerzierplatz abmarschierte und sie vor dem Wachhause in langer Reihe antreten ließ. Er machte mit Bobby, den er ablöste, den vorgeschriebenen Rundgang und übernahm die Posten am Ufer und an den anderen Stellen. Er war froh, als Bobbys Mannschaften abmarschiert waren und er sich in seinen Raum zurückziehen konnte.
Bevor die alte Wache abrückte, unterhielten sich die Freunde noch einige Minuten.
»Ich bitte dich, geh heute noch zu Hope und erkläre ihr, warum ich das Essen in meiner Wohnung absagen mußte.«
»Lady Cynthia ist sehr böse auf dich, ich vermute, daß du das weißt.«
»Das kann ich mir denken. Aber das macht mir nicht allzu große Kopfschmerzen. Warum sie wieder böse ist, mag der Himmel wissen. Hat sie dir gesagt, daß sie über mich ärgerlich ist?«
Bobby schüttelte den Kopf.
»Nein, das hat sie Davenport gesagt. Sie erzählte ihm, daß sie extra eine Einladung aufgegeben hat, um dein >armseliges Mädchen< zu treffen – das sollen ihre eigenen Worte gewesen sein –, und daß du sie dann hast sitzenlassen!«
Dick mußte lächeln.
»Sie wird sich wohl nicht so gewöhnlich ausgedrückt haben! Aber die Sache mit Lady Cynthia ist im Augenblick ja auch ziemlich gleichgültig. Sieh dich bitte nach Hope um. Ich habe ihr einen Brief geschrieben und denke, daß sie alles verstehen wird. Aber ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mit ihr darüber sprechen wolltest.«
Gleich darauf marschierte die Wache ab, und Dick war nun vierundzwanzig Stunden an den Dienst gebunden, der doch für gewöhnlich so uninteressant und langweilig war.
Lady Cynthia war an diesem Tag nicht in liebenswürdiger Stimmung, und wenn der Oberst den geringsten Entschuldigungsgrund gefunden hätte, so wäre er von zu Hause fortgegangen. Unglücklicherweise hielt auch ihn die Pflicht im Tower zurück, und so mußte er daheim bleiben und ihren Unwillen über sich ergehen lassen.
»Sehr unbesonnen von Dick, sicher«, sagte er nun schon zum xten Male, »aber er ist sehr empfindlich, wenn es sich um das Mädchen handelt.«
»Empfindlich!« sagte sie vorwurfsvoll. »Es ist unverschämt! Und diese Sache scheint auch den stupiden Longfellow angesteckt zu haben. Dick hat mich nicht nur persönlich gebeten, mit ihr zu speisen, sondern hat das ausdrücklich noch durch einen langen Brief bestätigt. In der letzten Minute hebt er die Einladung auf, weil
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