063 - Das Verrätertor
Schwäche von Lady Cynthia.
»Das Abendessen ist gerichtet, und es darf nicht umkommen. Lade dir einen Gast ein. Ich werde um elf Uhr zurück sein.«
Am liebsten hätte der Oberst Dick Hallowell zu sich gebeten, aber der hatte Dienst. Der Adjutant hatte eine andere Verabredung, und Ruislip war nicht in der Stimmung, höfliche Phrasen mit dem ältesten Major zu wechseln. So entschloß er sich denn, allein zu speisen. Als der Gong erklang und er in das getäfelte Zimmer ging, in dem das Essen auf ihn wartete, kam ein unerwarteter Besuch. Es war Diana Martyn in ihrer fröhlichsten Laune.
»Großer Gott, Diana!« sagte der Oberst verwirrt. »Was führt Sie hierher?«
In diesem Augenblick war er hocherfreut, daß Lady Cynthia ausgegangen war.
»Ich komme auf die Bitte Ihrer Gattin«, war die verwunderte Antwort.
»Cynthias?« fragte er ungläubig.
»Sie bat mich, zum Abendessen zu kommen – sie telefonierte mit meinem Mädchen, als ich ausgegangen war. Natürlich wollte ich gern kommen – ich habe Cynthia gern, und es tut mir sehr leid, daß sie mich nicht mehr mag.«
»Aber meine Liebe« – er war ganz verwirrt über diese Neuigkeiten -. »Cynthia ist ausgegangen. Sie hat eine Verabredung, die sie schon vor einem Monat getroffen hat. Das ist fatal…« Er klingelte nach der Zofe seiner Frau, aber das Mädchen wußte nicht, wohin Lady Cynthia gegangen war.
»Legen Sie ein Gedeck für Miss Martyn auf«, sagte der Oberst. »Sie bleiben natürlich, Diana«, bat er, als sie zögerte. »Cynthia würde es mir nie vergeben, wenn ich Sie gehen ließe!«
Er brachte eine Entschuldigung nach der andern für seine Frau vor, aber im Grund war er gar nicht unzufrieden, eine so entzückende Tischdame zu haben, und das Abendessen wurde viel angenehmer, als er vorher geglaubt hatte.
Gegen Ende der Tafel fragte sie ihn etwas.
»Wie Sie hier herauskommen?« Er lachte heiter. »Wissen Sie, daß Sie im Tower eingesperrt und eingeriegelt sind und daß die Posten Sie erst nach der Parole fragen werden und Sie mit dem Bajonett durchbohren, wenn Sie sie nicht wissen?«
»Dann käme ich wohl schwerlich durch. Haben Sie denn Paßworte im Tower?« fragte sie unschuldig.
Er nickte.
»Ja, es gibt ein Wort für alle Wachen in London, und das wird täglich geändert.«
»Abrakadabra«, rief sie lächelnd.
»Nein, nicht so kompliziert. Der arme, alte Wachmann würde ja einen fürchterlichen Schrecken bekommen, wenn er sich ein solches Wort merken müßte: Nein, es ist gewöhnlich der Name einer Stadt. Heute abend ist es – warten Sie mal – Boston, das ist es!«
»Boston!« Sie konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Es war also keines der vier Worte, die Trayne erwartet hatte.
Aber wie konnte sie die Änderung durch ein Zeichen klarmachen? Sie dachte bis zum Schluß des Abendessens intensiv darüber nach. Dann kam ihr ein Einfall, der es ihr verhältnismäßig einfach erscheinen ließ. Als sie einen Augenblick allein war, schrieb sie das Wort auf ein Stück Papier, wickelte es um ein Schillingstück und verwahrte es in ihrer Handtasche.
Um zehn Uhr wollte sie gehen. Und sie hatte die richtige Zeit gewählt, denn kaum waren sie aus dem Haus, als Lady Cynthia anläutete, daß sie erst um Mitternacht wiederkommen könnte.
Als sie nach dem Wachhaus gingen, sah sie eine Zeremonie, von der sie oft gehört hatte – jene mittelalterliche Gepflogenheit, die seit Hunderten von Jahren jeden Abend im Tower beobachtet wurde.
Durch das trotzige Tor des Blutturms marschierte eine kleine Anzahl Leute. Das Lampenlicht glitzerte auf den blanken Bajonetten. Ein Mann mit einer Handlaterne ging voran. Dann fragte eine scharfe Stimme: »Halt! Wer kommt dort?«
Die Kolonne hielt, und eine tiefe, martialische Stimme antwortete: »Die Schlüssel!«
»Wessen Schlüssel?« fragte die Schildwache.
»König Georgs Schlüssel«, war die Antwort.
Dann traten die Leute auf ein Kommando in Reih und Glied. Man hörte Dick Hallowells tiefe Stimme. »Übergib König Georgs Schlüssel! – Achtung, präsentiert das Gewehr!«
Die Gewehre flogen mit einem Ruck herunter – nach mehreren Kommandos wurden die Plätze gewechselt. Dann nahm der alte Wärter, der die Schlüssel trug, seinen Hut ab, und sein Ruf hallte über den einsamen Platz hinweg: »Gott schütze König Georg!«
»Nennt man das die Schlüssel?« fragte Diana flüsternd.
»Ja. Es ist sonderbar, nicht? Diese Zeremonie wurde nur in einer Nacht abgeändert, als die Königin Victoria starb und
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