0641 - Geisterbahn
sie es mit der Angst zu tun. Der Gedanke, einen Arzt zu rufen, wurde stärker. Sie wusste, dass sie etwas tun musste, aber sie wollte es nicht tun, ohne ihren Freund zu fragen.
»Dreh mal den Kopf, bitte!«, flüsterte sie. »Ich will mir die Wunde mal ansehen.«
»Okay.«
Tina kniete sich neben ihn, damit auf gleicher Höhe mit Linc war. Schon öfter hatte sie sich über das schlechte Licht in dieser Bude aufgeregt. Jetzt registrierte sie wieder, dass es nicht ausreichte, um alles genau erkennen zu können.
Sie hielt die Augen weit offen und hatte den Eindruck, als wäre die Wunde größer und breiter geworden. Diese Beobachtung ließ sie zusammenschrecken, was ihr Freund registrierte. Deshalb fragte er auch: »Was ist los? Was hast du?«
»Nichts, eigentlich…«
»Sag es doch!«
Tina riss die Streifen an den Enden des Pflaster-Rechtecks ab. »Vielleicht lachst du mich aus, Linc, aber ich meine, dass sich deine Wunde vergrößert hat.«
»Ehrlich?«
»Ja.«
»Das Gefühl hatte ich auch, als ich in den Spiegel schaute. Die brennt auch so komisch. Es zuckt darin, als würden sich unzählige Ameisen darin bewegen.«
»Und weiter?«
»Nichts, schau nach, aber sei vorsichtig.«
»Klar, du Held!«
Sie brachte ihr Gesicht sehr nahe an den Kopf des jungen Mannes heran. In der einen Hand hielt sie das Pflaster, die andere lehnte sie gegen die Haut - und erbleichte.
Ihr Blick war geradewegs in die Wunde gefallen, und dort hatte sie etwas gesehen, das sie fast umwarf.
Es war schlimm, es war grauenhaft, es war einfach unfassbar. In der Wunde zuckte und wimmelte es. Es schimmerte silbrig, weil sich die kleinen Körper so heftig bewegten.
Sie sahen aus wie winzige Silberfische, und sie waren es tatsächlich auch.
Tina Averno kam sich vor, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen…
***
Frankenstein war unterwegs!
Eigentlich hätte man darüber lachen können, aber es lachte niemand mehr, denn auf seinem Irrweg des Schreckens hatte das Monstrum bereits vier Verletzte hinter sich gelassen, und das war verdammt kein Spaß mehr.
Er war im Hyde Park zuletzt gesehen worden. Zuvor hatte man ihn auf Bahngleisen entdeckt, danach in einem U-Bahn-Schacht. Natürlich war die Polizei alarmiert worden, doch mit diesem Anruf hatte man die normalen Kollegen überfordert, deshalb wurde die Meldung weitergeleitet und erreichte schließlich uns, denn wir waren für Geisterbekämpfung und ähnliche Dinge zuständig.
Suko und ich hatten das zunächst als einen Spaß aufgefasst, aber die Aussagen der Zeugen waren einfach zu prägnant gewesen, und so war uns nichts anderes übrig geblieben, als der Sache auf den Grund zu gehen.
Jetzt befanden wir uns im Hyde Park!
Eigentlich hätten wir Feierabend machen wollen. Der Tag war schlimm gewesen.
Am Morgen hatten wir der Beerdigung unseres Hausmeisters beigewohnt, der unseren letzten Fall nicht überlebt hatte und mit der Liftkabine in die Tiefe gestürzt war.
Suko hätte beinahe das gleiche Schicksal erlitten. Ihm war es im letzten Moment gelungen, sich zu retten und den Dämon auszuschalten.
Der große Park atmete auf.
Tagsüber quoll er bei einem derartigen Wetter regelrecht über. Da waren die Sonnenhungrigen unterwegs, belagerten die großen Rasenflächen oder badeten in dem Gewässer Serpentine.
Wir hatten den Rover auf dem Parkplatz eines Restaurants am See abgestellt und uns dort mit einem Captain Wayne getroffen, der bei der City Police angestellt war und nicht zur Metropolitan gehörte, die ihren Sitz bei uns im Yard Building hatte.
Wayne wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Wir kannten uns flüchtig. Er stand vor uns, die Schultern angehoben und den Kopf schüttelnd.
»Fragen Sie mich nicht, ich bin nicht informiert und habe diesen Frankenstein auch nicht gesehen.«
»Wer dann?«
»Zwei meiner Leute.«
»Und wo?«
»Kommen Sie mit!«
»Können wir zu Fuß gehen?«, fragte Suko. »Oder wäre es besser, mit dem Wagen zu fahren?«
»Das geht ohne Fahrzeug.«
»Okay, wenn Sie das sagen.«
Der Captain ging vor. Er hieß nicht nur Wayne, er hatte auch beinahe den gleichen Gang wie der große amerikanische Western-Star, der in seinen Filmen fast immer unbesiegbar blieb.
Die grüne Lunge Londons dampfte, sie atmete tief aus, und aus ihrem Maul strömte die Feuchtigkeit.
Es war die Zeit zwischen Tag und Nacht. Nicht mehr richtig hell, aber auch noch nicht ganz dunkel, ein Diffuser Übergang, durchweht von feuchten Dunstschwaden, die
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