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0641 - Grabgesang

0641 - Grabgesang

Titel: 0641 - Grabgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Kurt Giesa
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und selbst die Schatten der Pferde und Reiter waren so gut wie nicht zu sehen. Zumindest nicht so deutlich, daß Eva daraus eine Richtung hätte ableiten können.
    Sie versuchte die Zeit zu schätzen, die vergangen war. Aber selbst das gelang ihr nicht. Waren es Minuten oder Stunden? Sie konnte es nicht mit Gewißheit sagen.
    Aber wieso nicht?
    Was beeinflußte sie dermaßen stark?
    Sie versuchte, auszubrechen. Das Pferd zu drehen und zurückzureiten in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Ganz gleich, welche Richtung das war - sie wollte nur fort von diesem Mann in Grau, von diesem Niemand.
    Sie zog an den Zügeln, versuchte das Pferd zu einer Richtungsänderung zu bewegen. Aber so, wie sie es beim Verlassen des Forts einfach nicht geschafft hatte, abzuspringen und zurückzubleiben, gelang es ihr jetzt auch nicht, in die andere Richtung zu verschwinden. Es war, als würde sie am Sattel kleben und das Pferd wie eine Maschine auf Schienen laufen, ohne eine Möglichkeit, es zu bremsen oder seine Richtung zu verändern.
    Sie verstand das nicht. Sie kam normalerweise mit Pferden hervorragend zurecht. Sie konnte mit ihnen reden, sie mit leichter Hand lenken; die Tiere faßten grundsätzlich schnell Vertrauen zu ihr. Das zumindest hatte sie während ihres Aufenthalts in dieser Zeit schon ausprobiert. Aber dieses Pferd ließ sich einfach nicht lenken. Es verweigerte sogar die ›Befehle‹, schneller oder langsamer zu werden. Wie von einer Fernsteuerung betätigt, folgte es dem Pferd des Grauen in immer gleichem Abstand.
    Sie konnte es nicht einmal näher an den Grauen heranbringen, um ihn vielleicht anzugreifen und aus dem Sattel zu stoßen. Oder ihn vielleicht mit einer seiner eigenen Waffen zu bedrohen.
    »He!« rief sie. »Wartet doch endlich! Ich muß mal!«
    Nicht einmal darauf reagierte er. Gerade so, als habe er sie durchschaut. Denn noch plagte sie tatsächlich kein menschliches Bedürfnis.
    Irgendwann allerdings war es wirklich so weit; der Druck auf die Blase wurde stärker und stärker. »Haltet endlich an!« schrie sie den Grauen an. »Ich halte das nicht mehr länger aus!«
    Da endlich stoppte er sein Pferd, und auch Evas Tier kam zum Stehen.
    Sie rutschte vom Sattel - und saß im nächsten Augenblick wieder oben, während sie weiterritten. Aber der Druck war fort.
    Eva erschauerte. Was ging hier vor? Was hatten diese seltsamen Veränderungen zu bedeuten?
    Irgendwie hatte sie manchmal auch das Gefühl, als würde sich an der Landschaft etwas ändern. Als würden sie große Entfernungen wesentlich schneller zurücklegen, als das eigentlich hätte sein dürfen.
    Als würden sie Sprünge machen…
    Schließlich wurde es besonders kraß - sie näherten sich einem ausgedehnten Sumpfgebiet, und von einem Moment zum anderen waren sie in einer trockenen Berglandschaft, die eben noch am nebelverhangenen, grauen Horizont hinter den Sümpfen zu sehen gewesen war. Da wußte sie endgültig, daß der Graue die Zeit manipulierte.
    Er verkürzte sie irgendwie.
    Er schnitt Teile der verstreichenden Zeit einfach aus Evas Leben heraus, ohne daß sie es direkt wahrnahm. Vielleicht waren sie schon seit Tagen oder Wochen unterwegs, und sie wußte es nicht - weil sie stets nur auf dem Pferd saß und die Veränderungen erst registrierte, wenn sie bereits stattgefunden hatten. Es war, als würden die Phasen, die sie bewußt erlebte, fugenlos aneinandergefügt, dort, wo die anderen Phasen ausgeschnitten wurden und einfach verschwanden.
    Sie wurde auch nicht müde, ritt sich nicht wund. Sie bekam keinen Hunger, keinen Durst. Oder wenn doch, dann waren diese Empfindungen nie von langer Dauer. Ein paar Minuten vielleicht.
    Schlafen, essen, all die anderen kleinen Bedürfnisse des Lebens - Eva bekam nichts davon mit. Diese Dinge wurden irgendwie von ihr ferngehalten. Bewußt erlebte sie nur den Ritt selbst, aber auch den scheinbar nicht in seiner vollen Länge.
    Es war unglaublich.
    Und der Graue schwieg sich aus. War er im Fort schon ziemlich schweigsam gewesen, so antwortete er jetzt auf überhaupt keine Frage mehr. Er sagte auch von sich aus nichts, sah nur hin und wieder einmal, wenn Eva ihn wieder einmal ansprach oder anrief, kurz zu ihr hin und dann wieder geradeaus.
    Es war fast, als habe er die Sprache verloren.
    Einmal passierten sie ein Indianerdorf in großer Entfernung. Eva hoffte schon, jetzt auf irgendeine Weise frei werden zu können. Sie sah eine Gruppe von Indianern, die aus dem Dorf gelaufen kam und sich den beiden

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