0641 - Grabgesang
noch mal, wie soll man bei so etwas eigentlich vernünftig einschlafen können?« fragte sie sich selbst und war in diesem Moment fast froh, daß ein großer Teil ihrer Reise sich ihrer Erinnerung entzog, weil sie nur Ausschnitte davon erlebt hatte.
Hoch den Deckel, herumklappen und dabei aufpassen, daß er nicht mit lautem Knall ganz überschlug. Während sie die Luke festhielt, turnte sie endgültig nach oben. Geduckt kauerte sie neben der Öffnung auf den Decksplanken, schloß die Luke wieder und sah sich um.
Ein eiskalter Wind strich über sie hinweg.
Der Himmel war grau und wolkenverhangen, das Wasser war eine endlose graue Fläche. Selbst die Segel, die über ihr im Wind knallten, schienen eher grau als weiß zu sein.
Langsam richtete sie sich auf.
Und sah, daß sie doch nicht an Bord eines Geisterschiffs war.
Hier gab es Menschen.
Und die kamen jetzt auf sie zu…
***
Zamorra und Nicole sahen sich an. Der Schwindel flog auf. Ab jetzt waren sie Gejagte. Damit waren alle Überlegungen und Pläne erst einmal illusorisch - sie mußten versuchen, mit heiler Haut von hier wegzukommen.
So praktisch es im ersten Moment gewesen war, daß Nicole mit dem Betäubungsstrahl die Verhaftung verhindert hatte, so gefährlich wurde es jetzt. Denn nun kam zu dem bisherigen Mißtrauen des Kommandanten auch noch der Angriff auf einen Offizier seiner Majestät.
Zamorra wollte aber möglichst keine Gewalt anwenden, um sich und Nicole die Freiheit zu bewahren. Sie gehörten beide nicht in diese Zeit, waren Eindringlinge. Was sie taten, wirkte sich wesentlich stärker auf das Weltengefüge aus, als würden sie es in ihrer Gegenwart tun.
»Was jetzt?« fragte Nicole.
Sie saßen in der Falle. Die Soldaten brauchten lediglich das Haus zu umstellen und konnten sie aushungern. Aber vermutlich würden sie nicht einmal so lange warten. Sie würden einfach stürmen.
»Zur Rückseite hinaus«, schlug Zamorra vor. »Aus irgendeinem Fenster. Irgendwie über den Palisadenzaun - durchs Tor wird es ja kaum gehen.«
»Und dann sind wir ohne die Pferde. Chef, zu Fuß möchte ich eigentlich doch nicht zu unserem Ankunftsort zurückpilgern.«
Und dorthin mußten sie, wenn sie wieder in ihre Gegenwart zurück wollten. Sie konnten es nur dort tun, wo sie aufgebrochen waren.
»Ich habe den Zukunftsring mitgenommen«, sagte Zamorra. »Wir könnten auch direkt von hier verschwinden.«
»Und müßten dann trotzdem mit dem Zukunftsring wieder genau hierher zurückkehren«, dämpfte Nicole seinen Optimismus. »Oder wir haben schon wieder offene Zeitkreise. Willst du das riskieren?«
»Wenn es um unser Leben geht -ja«, sagte Zamorra entschlossen. »Es war so ein seltsames Gefühl, als ich beschloß, nicht nur den Vergangenheitsring mitzunehmen. Wir könnten…«
Die Tür wurde von außen aufgestoßen.
Der Soldat, der draußen vor der Zimmertür geblieben war, hatte natürlich den Alarm mitbekommen und wußte nun längst, daß etwas nicht stimmte. Er hielt seine Waffe schußbereit.
Die Distanz war viel zu gering um sich irgendeine Chance auszurechnen. Der Mann hatte zwar nur einen Schuß, aber er würde auf jeden Fall entweder Zamorra oder Nicole erwischen. Und er konnte sie auf diese paar Schritte Entfernung keinesfalls verfehlen.
Sie hatten zu viele wertvolle Sekunden mit ihrer Diskussion vergeudet. Wenn sie gleich beim ersten Lärm hinausgestürmt wären, hätten sie zumindest diesen Mann noch überraschen können. Aber jetzt war es zu spät.
Sie konnten ihn nicht mehr überrumpeln.
Langsam hob Zamorra die Hände, und Nicole tat es ihm gleich.
Das Spiel war vorbei. Sie hatten verloren.
Sie waren Gefangene.
***
Langsam wich Eva zurück.
Die Männer, die sich ihr näherten, machten nicht gerade einen freundlichen Eindruck. Sie wirkten bärbeißig und brutal. Eva fragte sich, ob diese Männer überhaupt von ihrer Anwesenheit an Bord gewußt hatten oder sie jetzt nicht vielleicht eher für einen blinden Passagier hielten.
In diesem Fall konnte sie sich auf einiges gefaßt machen. Vermutlich würde man sie über Bord werfen -nachdem man sich mit ihr ausgiebig amüsiert hatte.
Nur konnte sie darauf herzlich gern verzichten.
Was konnte sie tun?
Da war nirgendwo Magie, die sie verwenden konnte. Ganz abgesehen davon, daß sie ihre seltsame Fähigkeit ja ohnehin nicht steuern konnte.
Was blieb ihr noch?
Es war das erste Mal, daß sie sich wünschte, ihre Lederausrüstung zu tragen. Diese seltsame Kleidung, die sie eigentlich
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