065 - Der Geisterreiter
Polizei, aber vermutlich hatte sie gar kein Telefon. Verzweifelt schob ich mich mit dem Rücken am Gartenzaun entlang. Harte Zweige streiften über meine Arme und Hände.
„Komm her! Schnell!“ wiederholte der Hunnenfürst. Er lächelte grausam und feuerte einen Schuß ab, der dicht über meinem Kopf ins Gebüsch schlug. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich war ihm hilflos ausgeliefert. Es würde noch schrecklicher sein als damals. Ich bereute, daß ich mich hier aufgehalten hatte.
Dicht vor dem Pferd des Hunnen blieb ich stehen. Das Tier war schweißüberströmt.
„Aufsteigen! Du meine Geisel!“ sagte der Fürst und zog den rechten Lederstiefel aus dem Steigbügel. Ich blickte auf. Sein Gesicht, noch wilder und drohender anzusehen als das seines Kriegshauptmannes, war vor Wut verzerrt. Der schwarze Schnurrbart schien sich aufwärts zu sträuben.
Das also war der Mörder der fünf Archäologen! Wo war Jürgen und wo hielten sich die vielen Polizisten und alle die anderen auf? Wer hatte geschossen? Wer verfolgte die beiden Reiter, die sich geschickt aus der Einkesselung davongemacht hatten? Ich schob den Fuß in den Steigbügel, die Hand des Hunnen krallte sich in meinen Oberarm, ich stieß einen Schmerzenslaut aus und wurde hochgerissen. Dann saß ich im Sattel.
„Wir neues Versteck! Du Geißel!“ sagte der Fürst.
Er setzte die Sporen ein und gab die Zügel frei. Hinter uns heulten und kläfften ein paar Dutzend Hunde, aber niemand wagte sich auf die Straße.
Wir ritten mitten durch die stille, menschenleere Vorortzone von Stalberg.
Die Hunnen schienen sich genau abgesprochen zu haben, und offensichtlich kannten sie jeden Weg und jede Fluchtmöglichkeit. Nach zweihundert Metern bog der Fürst nach links ab und ritt auf den Feldweg hinaus, der nach dem Weiler Buir führte. Weit voraus glaubte ich den anderen Hunnen zu sehen, aber dies konnte eine Täuschung sein. Alles war wie vor ein paar Tagen. Ich sann verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit. Aber hier gab es keinen Wagen, der mich aus meiner schrecklichen Lage hätte befreien können.
Wohin führte der Weg?
Nicht weit von Buir, einige Kilometer hinter dem großen Umspannwerk der Elektrizitätsgesellschaft, erstreckte sich ein neuer Waldstreifen. Ein Teil davon war Wasserschutzgebiet und Naturschutzgelände, voll von seltenen Vögeln. Wollte sich der Hunnenfürst dort verstecken? Angst und Verzweiflung machten mich mutlos und ließen mich nicht mehr aus ihrem würgenden Griff.
Jürgen Sander saß vor dem offenen Fenster und rauchte. Von Minute zu Minute wurde er unruhiger. Zwanzig Minuten war es her, seit er im Krankenhaus angerufen hatte. Dort sagte man ihm, Fräulein Wachholz sei vor etwa fünf Minuten abgefahren. Wo blieb Ille? Seine Sorge wuchs. Er hätte doch mitfahren sollen!
Er drückte die Zigarette aus und stand entschlossen auf, ging zum Telefon und wählte die Nummer des Polizeireviers. Nach fünfmaligem Zeichen meldete sich eine Stimme: „Hier Polizeikommando Stalberg, Schlüter.“
„Herr Schlüter“, sagte Jürgen erleichtert. „Hier ist Jürgen Sander, der Freund von Ille Wachholz. Ich mache mir Sorgen …“
Er berichtete, was ihn bedrückte. Mitten im Gespräch rief Schlüter: „Moment! Hier kommt gerade eine Meldung … warten Sie …!“
Jürgen konnte hören, daß aus verschiedenen Lautsprechern quäkende Durchsagen kamen. Dann schrie Schlüter: „Ruhe!“
Und etwas leiser: „Eben haben wir die Nachricht erhalten, daß Christina Gloede und Ihre Freundin von den Hunnen verschleppt worden sind. Ich schicke Ihnen sofort einen Wagen. Keine Sorge, heute entkommen sie uns nicht mehr!“
Jürgen murmelte niedergeschlagen und von der Sorge um Ille fast überwältigt: „Das können Sie leicht sagen!“
Schlüter hatte bereits aufgelegt.
Jürgen Sander holte seine Jacke und rannte aus dem Haus. Er blieb auf der Straße stehen und wartete voller Ungeduld auf den Einsatzwagen. Ille zum zweiten mal in der Gewalt der Hunnen! Ein entsetzlicher Gedanke! Endlich hörte er die Sirene des Wagens und rannte, mit beiden Armen winkend, auf die Scheinwerfer zu. Dicht vor Jürgen bremste der Wagen, eine Tür flog auf, und er zwängte sich auf den Beifahrersitz. Drei junge Beamte mit energischen Gesichtern saßen in dem Auto, das sofort wieder anfuhr. Auf den Knien der Männer lagen Maschinenpistolen. Ihre Dienstwaffen steckten in den offenen Schutztaschen.
„Was ist los, verdammt noch mal?“ wollte Jürgen
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