065 - Der Geisterreiter
wieder diese merkwürdige Stimmung, die ich immer dann hatte, wenn eine Prüfung bevorstand. Ein harter Klumpen ballte sich in meinem Magen zusammen – es war wie eine Vorahnung auf unangenehme Dinge. Eigentlich hatte ich nicht den geringsten Grund dazu, denn meinen Eltern ging es täglich besser. Als ich Jürgens Wagen erreicht hatte, blieb ich stehen. Er war kaum mehr zu erkennen, so schmutzig war er. Wir hatten ihn noch immer nicht zum Waschen bringen können. Ich sah mich um.
Das Krankenhaus lag etwa drei Kilometer außerhalb der Stadt, von einem noch jungen Park umgeben, der in den Wald überging. Rundherum war Stille. Nur das Licht aus den vielen Fenstern wirkte tröstlich und warm. Ich sah auf die Uhr. Sie zeigte einige Minuten nach acht.
„Es ist ruhig!“ sagte ich leise und öffnete die Tür. „Zu ruhig!“ Ich wußte, daß es zwischen Stalberg, Sammerath, Eichelsbrunn und Mündt von Männern geradezu wimmelte, deren einzige Aufgabe es war, die beiden Hunnen einzukesseln und zu fangen.
Ich bog in die Hauptstraße ein, fuhr aber nicht zu schnell, denn durch die verschmierte Scheibe sah ich nicht besonders gut. Der Wasserbehälter der Scheibenwaschanlage war leer, und die Wischerblätter ratterten quietschend über das Glas.
Zehn Minuten später bremste ich.
Weit vor mir rannte jemand über die Fahrbahn. Ich fuhr langsamer und blickte aus dem Seitenfenster. Undeutlich sah ich ein Kind mit langen blonden Haaren zwischen den Büschen am Straßenrand stehen. Es schaute ängstlich zu mir herüber. Ich erkannte das Mädchen. Es war Christina Gloede.
Ich fuhr an die rechte Seite und rief: „Christina! Was tust du hier? Es ist doch schon spät!“
Sie antwortete nicht. Anscheinend war sie wieder einmal von zu Hause weggelaufen und begab sich, ohne es zu wissen, in Gefahr. Kurz entschlossen stieg ich aus und überquerte die Straße.
Ich sprang über den niedrigen Graben und sagte in ruhigem Ton: „Christina, du kennst mich doch?“
Das Kind nickte und blickte mich schweigend an. Ihr Gesicht wirkte ernst und irgendwie verkniffen.
„Was tust du hier, Mädchen?“
Sie erwiderte trotzig: „Ich warte auf den Mann mit dem Pferd. Er soll mich mitnehmen!“
Ich war verblüfft und streckte den Arm aus, um Christinas Hand zu ergreifen. Schnell zog sie die Hand zurück, als fürchte sie sich vor mir.
„Warum soll er dich mitnehmen?“ fragte ich und überlegte, wie ich sie auf möglichst schnelle und undramatische Weise zu mir in den Wagen bringen konnte. Mir fiel nichts ein, also fragte ich weiter. Das Gefühl von irgendeinem kommenden Unheil stellte sich ein, stärker und dringender.
„Weshalb soll dich der Mann mitnehmen? Du weißt doch, daß es böse Männer sind!“
Christina biß sich auf die Unterlippe und kaute an einer Antwort herum. Dann sagte sie schnell: „Weil nämlich … zu Hause wollen sie mich nicht. Und wenn ich den Männern sage, daß sie alle nach ihnen suchen und sie totschießen wollen, dann nehmen sie mich mit, und ich kann den ganzen Tag reiten und am Feuer schlafen.“
Ich erschrak. Bisher hatten wir alle immer geglaubt, das schwachsinnige Mädchen sei der Liebling ihrer Familie. Ich griff ein zweites Mal nach ihrer kleinen Hand, die sie mir jetzt willig überließ und sagte eindringlich: „Hör mir mal gut zu, Christina! Die Männer werden gejagt. Auch heute, in dieser Nacht! Hörst du?“
Ich deutete in die Richtung des Teufelsmoores. Ein undeutliches Brummen war zu hören. Hin und wieder, kaum zu erkennen, huschten die Lichtstrahlen von Autoscheinwerfern über das Gelände.
„Ja … Und?“
„Diese beiden Männer mit ihren fünf Pferden werden von der Polizei gefangen. Sie haben viele Leute umgebracht, und sie werden auch dich töten. Und du möchtest doch nicht sterben, nicht wahr?“
Christina sah mich aufmerksam an, in ihrem Gesicht zuckte es. Dann begann sie zu weinen und klammerte sich an mich. Ich bückte mich, hob sie auf – sie war schwerer, als ich mir vorgestellt hatte – und trug sie langsam hinüber zum Wagen, der mit laufendem Motor dastand. Die Blinklichter bildeten große rote und gelbe Farbkleckse in der Dunkelheit.
„Wir fahren jetzt nach Hause“, sagte ich, als sie auf dem Nebensitz kauerte. „Es ist nämlich gar nicht wahr, daß sie dich daheim nicht mögen. Weißt du, Erwachsene und Kinder verstehen sich nicht immer, deshalb sind sie ärgerlich und schimpfen. Später wird das besser …“
Christina nickte stumm. Es war eine fromme
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