065 - Der Geisterreiter
den automatischen Waffen trafen den Flüchtenden und warfen ihn nach vorn. Jeder Einschlag trieb ihn eine Handbreit weiter auf das Wohngebäude zu, in dem einige Schüsse die Fensterscheiben zersplittert hatten. Plötzlich stolperte der Hunne und fiel wie eine Marionette zu Boden, deren Fäden ruckartig gekappt worden waren.
„Was tun die Männer?“ rief Christina.
„Sie nehmen den bösen Mann gefangen!“ sagte Jürgen und sah sich um. Er entdeckte einen anderen Polizeiwagen, der langsam hinter einem Grenzschutzfahrzeug vorbeifuhr. Jürgen lief mit dem Mädchen im Arm darauf zu und hielt den Wagen an.
„Bringen Sie das Kind so schnell wie möglich zu seinen Eltern“, sagte er laut. „Es ist Christina Gloede.“
„Wir kümmern uns darum!“ klang es uninteressiert zurück.
Jürgen blickte auf das Nummernschild und sagte deutlich:
„Aber möglichst schnell. Was hier passiert, ist nichts für ein zwölf jähriges Mädchen!“
„Okay!“
Jürgen setzte Christina auf einem leeren Rücksitz ab, warf die Tür zu und lächelte sie freundlich an. Dann wandte er sich um und rannte auf die Stelle zu, an der er den Hunnen zuletzt gesehen hatte. Augenscheinlich war er tot.
Etwa fünfzehn schwere Taschenlampen und batteriegespeiste Handscheinwerfer vereinigten ihr Licht auf den lang hingestreckten Körper. Die Männer schwiegen. Je näher Jürgen der Menge kam, desto ruhiger wurde es.
Jürgen schob und drückte sich durch den Kreis und starrte auf die Leiche hinunter. Ihm wurde klar, weshalb die Männer so tief erschrocken und verstummt waren.
Der Hunne lag auf dem Rücken, die Beine leicht angewinkelt. Eine Hand hielt noch einen Revolver, die andere lag jetzt um den Griff des Schwertes. Ganz langsam, gewissermaßen von Sekunde zu Sekunde, trat der Verfall des eben noch so lebendigen Körpers ein.
Das Fleisch schien zusammenzuschrumpfen, die Haut runzelte sich zusehends und endlich war eine Jahrtausende alte Mumie aus dem Krieger geworden.
Die Farben seiner Kleidung und Rüstung hatten sich geändert. Einzelne Teile zerfielen und rieselten als Staub zu Boden, das glänzende Metall wurde stumpf und fleckig, setzte Rost an. Alle Lederteile sahen jetzt schwarz und brüchig aus. Lediglich der Bogen des Kriegers blieb hell und neu.
Dann war der Prozeß der Umwandlung abgeschlossen. Niemand wußte, wie er sich das Unfaßbare erklären, was er sagen sollte.
Jürgen Sander, der nur vorübergehend durch den Hunnen abgelenkt worden war, zuckte zusammen.
Ille! Sein Illemädchen schwebte nach wie vor in Gefahr.
„Es waren doch zwei Hunnen!“ sagte er. Er sprach nicht laut, aber in dem entsetzten Schweigen waren die Worte unüberhörbar.
„Der Fürst ist noch irgendwo dort draußen und hat Ille Wachholz bei sich!“
Die Männer schalteten sofort und waren froh, von dem seltsamen Ereignis abgelenkt zu werden. Sie hielten sich lieber an Realitäten.
Sie verteilten sich nach allen Richtungen. Sprechfunkgeräte wurden eingesetzt, Befehle gegeben.
Jürgen suchte nach einem Fahrzeug, das ihn dorthin bringen würde, wo sich das Ende des Dramas abspielen würde, in die Nähe von Mündt oder weit hinter Buir.
Während des schnellen Rittes durch die Felder langte Fürst Torras hinter sich und schnitt mit einem harten Ruck das Seil durch, mit dem das Lastpferd an unseren Sattel gebunden war.
„Wir finden neues Versteck! Sheng kommt bald!“ lachte der Fürst. Ihm schien die wilde Jagd Freude zu bereiten, vielleicht deshalb, weil er die Zahl seiner Gegner nicht kannte oder ihren Kampfgeist unterschätzte.
Ich war noch immer wie gelähmt, aber der Umstand, daß ich eine Frau und den Strapazen nicht gewachsen war, ließ den Mann völlig gleichgültig. Das ließ immerhin vermuten, daß er mich wirklich nur als seine Geisel betrachtete.
Torras hielt mich mit den Oberarmen umschlossen. Jede plötzliche Bewegung, und wäre sie noch so vorsichtig ausgeführt, mußte er bemerken. Ich konnte also nichts tun, als mich mit meiner Lage abzufinden. Natürlich hatte ich mit dem Gedanken gespielt, einen Fluchtversuch zu unternehmen, denn wir waren oftmals an dichtem Gesträuch, kleinen Bachläufen und Feldern vorbeigekommen, in denen man sich hätte verbergen können. Aber ich hatte es nicht gewagt, mich aus dem Sattel fallen zu lassen. Die Angst vor der Wut des Hunnen war größer gewesen als mein Mut.
Rechts von uns gingen rote und weiße Leuchtkugeln hoch. Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern, Salven aus
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