0654 - Unter dem Vampirmond
dem Zimmer.
Nicole wartete ein paar Minuten, ehe sie ihm folgte. Sie fand ihn draußen im Vorhof. Er stand einfach da und sah zum sternenklaren Nachthimmel empor. Es war sehr kühl geworden, aber Nicole spürte die Nachtkälte nicht. Ihre Hand berührte Zamorras Wange, glitt zu seiner Schulter herab.
»Glaubst du nicht, ich hätte nicht oft genug über diese Versuchung nachgedacht in den letzten Wochen?« fragte er leise. »Uns steht vielleicht alles offen, Nicole! Mit Zeitreisen, wenn sie wirklich ohne Paradox stattfinden können, würden wir die ganze Welt beherrschen können. Wir könnten alles verändern. Wir könnten Tote ins Leben zurückholen, indem wir ihr Sterben nachträglich verhinderten, ja! Aber was wäre der Preis dafür? Eins baut stets auf dem anderen auf. Alles entwickelt sich weiter! Wieviel würden wir dabei zerstören, ohne es vielleicht überhaupt zu bemerken? Wir wären wie Gott, Nicole, und das will ich nicht sein!«
Sie antwortete nicht.
»Bill«, murmelte er. »Kerr. Manuela Ford. Maurice Cascal. Dämon und Byanca und all die anderen. Oft sehe ich sie vor mir. Wünsche mir, sie würden noch leben. Aber es ist geschehen, es mußte so sein. Warum? Das weiß ich nicht, und ich will es auch besser nicht wissen. Manchmal darf man nicht fragen, weil man die Antworten vielleicht nicht ertragen könnte. Laß es Träume bleiben, Nici. Mehr nicht.«
Er schloß sie in seine Arme. Sie lehnte sich einfach nur an ihn. Eine Weile standen sie schweigend da.
Dann kehrten sie ins Gebäude zurück.
Vielleicht war es jetzt einfach an der Zeit, den Tag zu beschließen und diese Träume zu begraben.
Zum wievielten Mal?
***
Ein anderer Traum, der Traum von der Macht, hielt die Vampirin wach. Sie sah die Sonne aufgehen.
Sie verkroch sich nicht in die Dunkelheit, nicht in einen Sarg. Sie sah jung und hübsch aus, aber sie war alt. Sehr alt. Sie gehörte längst zu jenen, die das Licht ertragen konnten, wenn es sie nicht im Übermaß traf. Natürlich konnte sie niemals in den Mittagsstunden am Strand liegen und sich von der Sommersonne bräunen lassen. Sie mußte sich schützen, und so hatte sie auch jetzt Kleidung angelegt, die ihren Körper restlos verhüllte. Eine Mütze, Sonnenbrille und Handschuhe gehörten mit zu ihren Sicherheitsmaßnahmen. Aber so konnte sie sich auch bei Tageslicht frei bewegen, wie es Sarkana gekonnt hatte, oder jener Tan Morano, der, wie es hieß, seinesgleichen getötet und damit gegen das ehernste Gesetz aller Vampire verstoßen hatte. Aber Morano galt mittlerweile als verschwunden oder tot.
Seit ein paar Jahrzehnten gab es darüber hinaus eine neue Art von Vampiren, welchen das Tageslicht von Natur aus nicht mehr schadete. Eine Mutation, die sich mehr und mehr durchzusetzen begann, nicht bei jenen, die durch den Biß den Keim eingepflanzt bekamen, sondern bei den natürlichen Vampiren.
Evolution…
Sie mochte diese neue Generation der Tageslichtvampire nicht. Die hatten es zu einfach. Edle alte Geschöpfe wie der legendäre Sarkana oder auch sie selbst hatten viele Jahrhunderte gebraucht, um die Sonne einigermaßen ertragen zu können, und auch jetzt waren sie noch gehandicapt. Den neuen fiel all das bereits in den Schoß.
Aber so vieles deutete darauf hin, daß die fortschreitenden Veränderungen unumkehrbar waren und auch von Mal zu Mal drastischer wurden. Das neue Äon wartete wieder einmal mit vielen Überraschungen und Veränderungen auf, wie jedesmal bei einem solchen Wechsel. Aber vielleicht kehrte diesmal ja endlich die Macht zu den Schwarzblütigen zurück. Die Macht, wie sie einst gewesen war, ehe der Nazarener von den Toten zurückkehrte, ohne zu einem Untoten geworden zu sein. Fast wäre es sogar noch schlimmer gekommen, aber wenigstens hatte einer an seiner Tafel für den Verrat gewonnen werden können.
Jahrhunderte später hatte ein anderer eine neue Tafelrunde um sich geschart. Auch er war verraten worden, dieser König von Britannien. Und jetzt entstand eine solche Runde zum dritten Mal, diesmal um einen Dämonenjäger, der mehr wußte und über mehr Macht verfügte als seine Vorgänger. Auch er mußte durch Verrat gestürzt werden. Aber wer sollte der Verräter sein? Sie waren alle so unbestechlich, seine modernen Ritter, zu denen jetzt auch Frauen gehörten. Es war schwieriger denn je, die Tafelrunde zu sprengen.
Doch wenn es gelang - wenn sie zerbrach, wenn auch Zamorra vernichtet werden konnte und seine Mitstreiter erschlagen oder in alle Winde des
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