0656 - Der Blutpriester
Erinnerungsfragmente kamen heute häufiger als früher. Aber solange sie nicht wirklich greifbar wurden, ließ sich damit nicht das geringste anfangen. Das Geheimnis um Eva wurde dadurch nur noch größer. Das einzige, was offensichtlich feststand, war, daß sie eine Tochter des Zauberers Merlin sein mußte.
Der alte Knabe hatte sich dazu bisher nicht geäußert und blieb auch in diesem Fall geheimniskrämerisch wie immer.
Eva setzte sich an den Tisch. »Ihr seid heute ja schon früh auf«, stellte sie fest. »Nehmt ihr mich mit nach Rom?«
»Wer sagt, daß wir nach Rom wollen?« fragte Zamorra.
»Ich hab's heute nacht mitbekommen«, gestand Eva. »Eher zufällig. Ich war zwischendurch wach, wollte mir etwas zu Naschen holen, und da sah ich euch, wie ihr mit dem blonden Mann zusammengesessen und geredet habt. Da wollte ich nicht stören und bin wieder gegangen.«
»Und jetzt möchtest du bei der Aktion mitmachen?« wunderte sich Nicole. »Das paßt gar nicht zu dir. Früher hast du doch immer versucht, der Magie auszuweichen. Du warst sehr unglücklich über deine Para-Fähigkeiten.«
»Ich möchte mich in Rom Umsehen«, sagte sie. »Das ist alles. Helfen kann ich euch vermutlich nicht. Schon gar nicht mit Magie. Ich weiß nicht, was früher war, aber es ist etwas Unnatürliches. Ich will es nicht. Nicht so wie in Moskau… und…«
»Und?« hakte Zamorra sofort nach. »Wo noch? Ist da etwas in deiner Erinnerung?«
Eva schloß die Augen. »Nein«, sagte sie langsam. »Nein. Gerade glaubte ich etwas zu wissen, aber es ist weg.«
»Wenn du dich nur in Rom Umsehen willst, warum tust du es dann nicht einfach?«
»Ich dachte, ich müßte jemanden fragen. Schließlich bin ich…« Sie verstummte wieder, rutschte etwas unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.
»Schließlich bist du erst sechzehn?« schoß Nicole ihre Frage ab.
»Sechzehn?« echote Eva verblüfft. »Bin ich das? Ich weiß es nicht. Sehe ich so jung aus? Ich fühle mich erwachsener.«
»Und ob du so aussiehst«, stellte Zamorra fest. »Vor allem in diesem Outfit. Ich glaube nicht, daß es gut ist, wenn du so allein durch Rom läufst. Die papagalli werden dir nachlaufen und dich belästigen.«
Sie hatte kein Problem mit der Übersetzung. »Die alten Hähne? Die Schürzenjäger? Diese Machos werden mich schon in Ruhe lassen, wenn ich ihnen einen Tritt ins…« Sie errötete und verstummte.
»Stell es dir nicht so einfach vor«, warnte Nicole. Nachdenklich musterte sie Eva. Ein kurzes, buntes Kleid mit Spaghettiträgern, weiße Söckchen und Sandalen, und das lange Blondhaar zu Zöpfen geflochten. Das machte Eva äußerlich vielleicht noch ein wenig jünger. »Du solltest dir etwas anderes anziehen«, empfahl sie. »Ich gebe dir ein paar Sachen von mir…«
»Die sind mir zu groß!«
Das hatten sie schon in Moskau festgestellt. Aber damals, als Eva erstmals vor dem Château auftauchte, hatten ihr Nicoles Kleider noch gepaßt. Sie wurde tatsächlich jünger!
Sie verschränkte die Arme vor dem jugendlichen Busen. »Ihr behandelt mich wie ein kleines Kind!« beschwerte sie sich. »Schreibt mir schon vor, was ich anzuziehen habe und was nicht! Ist doch nicht zu fassen…«
»Vorschlag«, bot Nicole an. »Während wir Ted Ewigk helfen, die Welt zu retten, kann Carlotta dir Rom zeigen. Dann seid ihr zu zweit und nicht ganz so gefährdet.«
»Wer ist Carlotta?«
»Kennst du sie nicht mehr?« wunderte sich Nicole. »Teds Lebensgefährtin und deine Freundin. Letzten Sommer hast du sie sehr zu Teds Ärger vernascht…«
»Was habe ich?« stieß Eva hervor.
»Sex mit ihr gehabt«, half Nicole trocken aus. Sie selbst hatte sich Evas Nachstellungen auch immer wieder erwehren müssen - sogar jüngst in Moskau wieder - und sie mit der Zeit nicht mehr als lustig, sondern lästig empfunden. Das Para-Mädchen konnte mit Männern absolut nichts anfangen und fühlte sich zum eigenen Geschlecht hingezogen. Carlotta gehörte zu den etwas experimentierfreudigeren Frauen; Nicole dagegen zumindest in dieser Hinsicht nicht.
»Ich weiß davon nichts«, protestierte Eva heftig, um nach einer Weile etwas lauernd zu fragen: »Ist sie wenigstens hübsch?«
»Wirst du ja sehen«, erwiderte Nicole.
Das Visofon in einer Ecke des Zimmers sprach an. Auf dem Monitor des über die Computer-Anlage gesteuerten Bildtelefons zeigte sich Raffaels Gesicht.
»Verzeihung, aber ein Ferngespräch aus Rom. Monsieur Ewigk scheint sehr erregt…«
»Durchstellen«, verlangte Zamorra
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