0662 - Sturm auf den Todestempel
jetzt davon aus, dass sich die Wolke sehr dafür interessierte.
Meine Lippen waren zu trocken. Mit der Zunge feuchtete ich sie an. Der Herzschlag war auch nicht mehr normal. Die Spannung stieg. Ich nahm die Umwelt bewusst wahr, vor allen Dingen die Geräusche, die uns umgaben. Die Maschine erinnerte mich plötzlich an einen gläsernen Käfig, in dem wir relativ schutzlos saßen.
Noch immer bewegten wir uns aufeinander zu. Auf der einen Seite die Wolke, auf der anderen wir im Hubschrauber.
»Da ist es!« Die drei Worte sprangen mir über die Lippen und Suko nickte, denn auch er hatte sie gesehen.
Sie - das waren die sich bewegenden Umrisse innerhalb der schwarzgrauen Wolke, in der wir zudem hellere Flecken erkannten, als würde das Sonnenlicht von hinten gegen sie strahlen und sie an bestimmten Punkten erwischen.
Und die Umrisse hatten ein Ziel. Sie bewegten sich dem Zentrum entgegen, wellten sich auf, nahmen eine andere Form an, sodass etwas Erkennbares entstand.
Das Gesicht!
Dick, wolkig, sehr rund, als würde es aus aufgeblasenem Gummi bestehen. Die Nase, der Mund, die eng zusammenstehenden Augen, in denen auch ein dunkler Blick lag, geschärft durch zwei Pupillen, die mich an die Oberflächen dunkler, runder Pfützen erinnerten.
Er stand dort wie eine Wand!
Zwar war er ein Geistwesen, wirkte jedoch massiv wie Beton. Suko zeigte keine Furcht in seinen Handlungen. Er hatte weder die Höhe verändert noch die Geschwindigkeit gesenkt. Unbeirrt flogen wir auf die Wolke zu.
Als ich ihn darauf ansprach, hob er die Schultern. »Was soll ich anders machen, John? Ich kann ihm nicht ausweichen, das klappt nicht. Wir müssen uns stellen.«
»Okay.«
Noch war es Zeit, um sich umzudrehen. Ich tat es, sah Shao, Cheng Wu und auch den Tamilen, der noch immer summte, diesmal allerdings leiser.
»Wie reagiert er?«
Shao hob die schmalen Schultern. »Ich kann es dir nicht sagen, John. Noch zeigt er keine Reaktion. Aber er wird die Wolke registriert haben, das kannst du mir glauben.«
Ich wollte mich wieder umwenden, als durch die Gestalt des Weisen ein Ruck fuhr. Selbst Shao rückte bei dieser Bewegung zur Seite. Es war wie ein Stoß gewesen, und einen Augenblick später stand er auf.
Das Innere des Hubschraubers war hoch genug, um der Gestalt dies zu ermöglichen. Er blieb auch stehen, hatte die Füße zusammengelegt und rührte sich nicht von der Stelle.
Er schaffte es auch, selbst die Schwingungen des Hubschraubers auszugleichen, streckte die Arme vor und ging die ersten Schritte. Es sah so aus, als wollte er in den summenden Gesang des Tamilen hineinschreiten, für den er jedoch keinen Blick hatte, sondern stur geradeaus schaute. Das tat ich ebenfalls - und erschrak.
Die Wolke war da, das Gesicht war da. Und ich hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um dort hineinzugreifen…
***
Suko hielt die Lippen zusammengepresst und atmete ausschließlich durch die Nase. Sein Blick flackerte nicht, er kam mir wie eine übergroße Spielzeugfigur vor.
»Die packt uns, John…«
Im selben Augenblick trat Cheng Wu zwischen uns. Er sprach nicht, er schaute nur, dann kreisten seine Arme, er bewegte die dünnen Finger und einen Augenblick später verzog sich das wolkige, dicke Gesicht vor der Maschine zu einem Lächeln.
Geschafft - oder? Hatte er uns angenommen? Würde er den Hubschrauber vernichten?
Ich war fest davon überzeugt, dass er diese Kraft besaß.
»Haaa…« Aus dem Mund des erwachten Gottes drang ein lang gezogener Laut, eine Botschaft, die er der Wolke mit dem Gesicht entgegenschickte.
Und sie packte zu.
Ein Stoß durchlief die Maschine. Sie wurde durchgeschüttelt, als befände sie sich in einem Wirbelsturm. Wir verloren plötzlich an Höhe, rasten dem Meer entgegen und befürchteten beide, von den Wellen verschluckt zu werden.
Die rasante Fahrt in die Tiefe hörte einfach nicht auf. Wir hätten längst gegen die betonharte Fläche schlagen und in Fetzen gerissen werden müssen, das jedoch blieb aus. Mir gelang es, mich an den rasanten Fall zu gewöhnen, und ich merkte, dass etwas anderes mit unserer Maschine geschehen sein musste, denn gewisse physikalische Gesetze waren einfach nicht mehr vorhanden.
Das Gesicht blieb, die Wolke blieb. Die Dunkelheit umarmte uns, wobei die hellen Flecken zwischendurch schimmerten wie zerrissene Tuchfetzen. Ich konnte nicht erkennen, wo der Himmel war, das Meer oder vielleicht sogar die Landmasse.
Alles ging unter in einem dramatischen Wirbel, in einer
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