0662 - Sturm auf den Todestempel
ihn und schaute in sein Gesicht.
Die Augen waren von den Geschossen nicht verletzt worden. Er hielt sie geschlossen.
Flüsternd sprach ich seinen Namen aus. »Cheng Wu, bitte - bist du noch unter…?«
»Mein Freund…« Er hatte nur die Lippen bewegt und hielt die Augen geschlossen.
»Ich habe ihn!«, keuchte ich. »Ich - ich habe den Stab.«
Das veränderte Etwas schaute aus meiner geschlossenen Hand, aber Cheng Wu traf keinerlei Anstalten, ihn an sich zu nehmen.
Er konnte es nicht, wahrscheinlich waren die Schmerzen zu groß, möglicherweise stand er auch auf der Schwelle zum Jenseits, aus dem er nicht mehr zurückkehren würde.
»Gib ihn mir, Freund. Gib ihn mir in die rechte Hand. Das möchte ich so haben - schnell…«
Und ob ich mich beeilte.
Leider hatte er seine Haltung verändert, ich musste seinen rechten Arm erst unter dem Körper hervorzerren und hoffte, dass er dies überlebte. Er bewegte sich nicht. Es gab keine Reflexe, und wieder schoss die Furcht in mir hoch.
Ich hielt die Hand fest und hob mit ihr zusammen auch den Arm an. Er hatte sie zur Faust geballt, die ich erst öffnen musste, was nicht einfach war. Zwar erlebte ich keine Starre wie bei einem Toten, doch ich musste mehrmals nachgreifen, um die Faust so weit öffnen zu können, dass der Stab genügend Platz hatte, um von oben her durch das schmale Loch in die Faust hineingeschoben werden zu können.
Da blieb er auch.
Trotz meines Kratzens im Hals sprach ich ihn an. »Bitte, Cheng Wu, melde dich…«
Seine Augen blieben geschlossen, nur die Lippen zuckten, doch er sprach kein Wort.
Ich strich über seine linke Wange. Die Berührung elektrisierte ihn noch einmal. »Leben«, hauchte der Sterbende, »ich spüre Leben, ich spüre dein Leben. Du hast es geschafft, du wirst weiterleben…«
»Das möchte ich auch. Ich werde den Kampf nicht aufgeben, aber ich möchte von dir einen Gefallen…«
»Steckt der Stab in meiner Hand?«
»Ja, kannst du es nicht spüren?«
»0 doch«, sagte er endlich leise. »Ich spüre seine Kraft, die nicht von dieser Welt stammt. Es ist Buddha, der große Geist. Er - er hat ihn…«
»Bitte, sprich die Worte.«
Jetzt öffnete Cheng Wu den Mund. Da klaffte in seinem Gesicht ein Loch und er schaffte es tatsächlich, die wichtigen Worte über die kaum vorhandenen Lippen zu bringen.
Was er sagte, verstand ich nicht. Es waren Worte, die zu einer mir fremden Sprache gehörten. Sie klangen abgehackt, hart und gleichzeitig weich. Zuerst hatte er leise, kaum verständlich gesprochen, dann redete er lauter, denn ein erneuter Kraftstrom war durch seinen Körper gezuckt.
»Shai grom achi nemen hen…«
Was mochte das wohl bedeuten?
Wie gefesselt starrte ich auf den Stab, der aus der bewegungslosen Faust hervorragte. Es war wie ein Wunder, denn die Hand zuckte. Nicht weil Cheng Wu sie bewegt hatte, es lag allein an Sukos Stab, der seine Form abermals veränderte.
Er wuchs aus der Faust hervor, veränderte dabei seine kompakte Masse, verjüngte sich und nahm die gleiche Form an, die er immer gehabt hatte.
Er wurde normal.
Verdammt, in meinen Augen spürte ich das Brennen, als hätte jemand Säure hineingekippt, aber Tränen bestehen nicht aus Säure.
Etwas zischte mir entgegen. Es war der letzte Atemzug des Cheng Wu, der auch als der schlafende Gott bezeichnet worden war und nun den Weg eingeschlagen hatte, den jeder von uns einmal gehen würde.
Der Krampf löste sich aus seinem Körper und ebenfalls aus seiner Faust. Sie verschwand, der Stab fand keinen Halt mehr, er kippte und in meine offene Handfläche hinein, wo er liegen blieb.
Ich schaute ihn an.
Er war wieder so wie früher!
Ich musste einfach über meine Augen wischen, schluckte und konnte erst dann sprechen. »Danke, Cheng Wu, danke für alles…« Dabei dachte ich auch an Nadine.
Daten hörte ich Schritte. Sehr leise, behutsam, als wollte mich der Ankömmling nicht stören.
Ich drehte den Kopf und sah die hoch gewachsene Gestalt der Chinesin auf mich zukommen.
Als ich mich erhob, blieb sie stehen. »Du brauchst mir nichts zu erklären, John.«
»Danke. Was ist mit Suko?«
Sie lächelte. »Er wollte nicht, er hat sich nicht getraut, er - er hatte Furcht, dass du es nicht schaffen würdest.«
Ich hielt den Stab hoch. »Diese Angst braucht er jetzt nicht mehr zu haben. Komm, Shao, lass uns gehen!«
Sie hatte nichts dagegen…
***
Er sah mich an, ich sah ihn an, und diesmal schimmerte es in den Augen meines Freundes feucht, als ich ihm
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