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0674 - Der Wald des Teufels

0674 - Der Wald des Teufels

Titel: 0674 - Der Wald des Teufels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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dafür kannte das Wesen nicht. Von seinem einsamen Wachposten kennte es nur sehen, daß das Gebäude inzwischen fast fertig war.
    Das Wesen stieß sich kraftvoll von dem Ast ab, auf dem es gesessen hatte, und schwang sich auf ledernen Flügeln in die Luft. Einen Moment lang kreiste es über dem Wald. Die Blicke seiner dunklen Augen durchdrangen das üppige Grün, bis es die Ruinen fand, die darunter verborgen lagen.
    Warum sind die Menschen hier? dachte das Wesen fast schon verzweifelt. Warum sind sie dem Ort so nah, den sie niemals betreten dürfen? Warum haben sie auf keine der Botschaften gehört, die ich ihnen geschickt habe? Warum nur?
    Das waren die Fragen, die es den Bäumen, dem Wind und den Flüssen gestellt hatte. Aber keiner von ihnen hatte, sie beantworten können.
    Und so blieb das Wesen allein über dem Wald zurück und erwartete die Katastrophe.
    ***
    »Bitte setzen Sie sich doch«, sagte Ludmilla Yanakowa in akzentfreiem Deutsch und deutete auf zwei hoch gepolsterte Sessel, die vor einem kleinen Couchtisch standen. Zamorra und Nicole kamen der Aufforderung nach. Ohne ein weiteres Wort verschwand die alte Russin aus dem Zimmer und ließ sie allein.
    »Ich glaube nicht, daß sie oft Besuch bekommt«, kommentierte Nicole ihr exzentrisches Verhalten leise.
    Zamorra nickte. »Vermutlich stehen Russen in diesem Teil Deutschlands noch immer nicht sehr hoch in der Beliebtheitsskala.«
    Er sah sich in dem großen Wohnzimmer um. An den Wänden standen hohe Regale, die bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit mit Büchern gefüllt waren. Dazwischen hingen russische Ikonen und bunte Wandteppiche, auf denen die unterschiedlichsten Motive zu sehen waren. Der Boden wurde von ebenso bunten Teppichen bedeckt. Vor dem mit - natürlich bunten - Vorhängen verdeckten Fenster stand ein alter Schreibtisch, auf dem sich weitere Bücher stapelten. In einigen steckten Zettel, die säuberlich in Kyrillisch beschriftet waren. Außer einer Stehlampe neben dem Schreibtisch erinnerte nichts in dem überhitzten Raum an das zwanzigste Jahrhundert.
    Ludmilla lächelte, als sie mit einem Stapel Papier in der Hand ins Wohnzimmer zurückkehrte. Mit ihren hochgesteckten weißen Haaren wirkte sie wie die typische Großmutter aus einem alten Kinderbuch.
    »Hier sind alle Aufzeichnungen, die ich zu dem Fall gemacht habe. Wie Sie sehen, taucht die Legende des schwarzen Mannes, der Kinder in den Wald entführt, zum ersten Mal im Jahr 1412 auf. Von da an kann man ihrer Spur kontinuierlich bis ins Jahr 1696 folgen. Dann reißt sie ab.«
    Ludmilla setzte sich auf die Couch und sah die beiden Dämonenjäger ernst an. »Bis heute…«
    »Warum sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den entführten Kindern und einer über dreihundert Jahren alten Legende?« hakte Nicole nach.
    »Weil sich etwas in Fürstenwald verändert hat. Der neue Bürgermeister will, daß der Ort expandiert. Deshalb bauen sie draußen im Wald eins von diesen neuen Lichtspielhäusern.«
    Trotz der ernsten Diskussion mußte sich Zamorra ein Grinsen verbeißen. Lichtspielhäuser… Ludmilla weigerte sich anscheinend standhaft, mit dem Begriff Kino den Sprung in die Gegenwart zu wagen. Sie traute sich nicht mal an Cinemathek heran…
    Vielleicht, dachte er schmunzelnd und erinnerte sich an die stehende Redensart Professor Saranows, sind Kinos eben keine russische Erfindung…
    Nicole fuhr fort: »Warum sollte der Bau eines Kinos die Legende provozieren?«
    Die Russin sah Nicole scharf an. »Weil es an einem Ort gebaut wird, den Menschen nicht betreten dürfen.«
    Sie bemerkte, wie ihre Gäste sich zweifelnde Blicke zuwarfen, und zog eine Landkarte aus ihren Aufzeichnungen hervor. »Sehen Sie hier. Das ist der Ort Fürstenwald im Jahr 1395. Da wurde er zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Und jetzt sehen Sie sich die Ausdehnung des Dorfes an. Was fällt Ihnen auf?«
    Zamorra beugte sich über die Karte. Im ersten Moment erkannte er nur Linien und Zahlen, doch dann fügte sich nach und nach ein Bild zusammen. Ortschaften wuchsen normalerweise entlang bestimmter Eigenarten. Man baute Häuser in der Nähe von Wasserläufen oder an Handelsstraßen und achtete darauf, daß sich die Gebäude gegenseitig schützten. So entstanden die typischen kreisförmigen Städte, die man aus dem Mittelalter kannte.
    Oder die Ortschaften wurden von Anfang an geplant, wie das mit Erlaubnis des Kaisers Friedrich Barbarossa bereits im Jahr 1185 von Graf Bernhard II gegründete westfälische Lippstadt, dessen

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