0682 - Das Geisterkind
gelesen, wo Engel angeblich zu riechen gewesen waren. Sie sollen einen bestimmten Duft absondern, einen sehr intensiven und auch wohlriechenden. Ja, das hörte ich mal. Deshalb…« Sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte, und senkte den Kopf.
Die beiden Männer ließen ihr Zeit. Erst nach wenigen Minuten nahmen sie den Gesprächsfetzen wieder auf. »Wir haben Sie nicht belogen«, sagte Ray, »denn wir sind tatsächlich wegen Ihrer Tochter hergekommen, weil sie ein so außergewöhnliches Kind war, dem es gelang, einen Blick in andere Welten zu tun.«
Kate Foreman nickte. »Ja, sie war ein Kind, aber jetzt ist sie tot. Sie hat psychischen Selbstmord begangen. Sie wollte einfach nicht mehr leben, verstehen Sie das?«
»Es war kein Selbstmord.«
»Was dann?«
»Sie war vorgesehen. Sie musste es tun. Ihre Tochter Millie musste den Weg gehen.«
»Und wohin bitte? Wer begibt sich denn schon freiwillig ins Jenseits? Können Sie mir das sagen?«
Rami hob die Augenbrauen. Sein Gesicht nahm einen erstaunten Ausdruck an. »Jenseits, sagen Sie?«
»Ja, Jenseits. Oder fällt Ihnen noch ein anderer Begriff ein? Ich könnte auch sagen Himmel oder Totenwelt, aber Jenseits gefällt mir am besten, weil es neutral ist.«
»Was ist schon ein Körper, Kate?«
»Aber Rami, bitte! Ein Körper lebt, er bewegt sich, er kann laufen, er hat eine Stimme…«
»Er ist ein Nichts im Vergleich zur Seele. Ein Körper ist sterblich, doch eine Seele ist unsterblich. Sie kann in völlig andere Sphären wandern. Ihr erschließen sich wundersame Welten. Sie öffnen sich wie gewaltige Muscheln, die Sucher am Strand finden. Auf die Seele kommt es an, Kate, und nicht auf den Körper eines Menschen. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Mensch eine Frau, ein Mann oder ein Kind ist.«
Kate Foreman senkte den Kopf. »Sie machen mir Angst«, sprach sie mit leiser Stimme. »Ja, Sie machen mir Angst.«
»Nein, Kate, wir wollen Ihnen keine Angst einjagen. Wir wollen nur einiges richtig stellen. Sie sollen über gewisse Dinge nachdenken. Sie sollen Ihr Leben ändern.«
»Wie?«
»Nicht mehr in den Grenzen denken, die man abgesteckt hat. Öffnen Sie sich bitte.«
Das verstand Kate Foreman. Wenn sie einen guten Tag gehabt hätte, möglicherweise, aber nicht jetzt. Sie schaute auf ihre Knie und schüttelte den Kopf. Einige Male hob sie die Schultern und bemerkte nicht, dass sich die beiden Besucher zunickten.
Als sie aufstanden, zuckte auch ihr Blick hoch. »Bitte, wo wollen Sie hin?«
»Keine Sorge, wir verlassen Sie nicht. Wir möchten nur in das Zimmer Ihrer Tochter.«
»Aber…«
Rami legte einen Finger gegen die Lippen und zog ihn beim Sprechen wieder fort. »Kein Aber, Mrs. Foreman. Es ist besser so, das müssen Sie uns glauben.« Er streckte ihr lächelnd den Arm entgegen.
»Kommen Sie, Kate, Sie sollen ja dabei sein.«
Sie wehrte sich. »Nein, verstehen Sie mich doch. Es ist einfach zu schlimm für mich, wenn ich…«
»Nichts wird mehr schlimm sein, wenn wir mit unserer wichtigen Arbeit fertig sind.«
Langsam kam sie hoch. »Wichtige Arbeit, sagen Sie? Welche Arbeit meinen Sie?«
»Sie werden alles sehen, und ich hoffe, dass Sie dann auch begreifen werden.«
Kate fuhr mit der Zungenspitze über die Lippen. Sie waren sehr trocken. Hastig trank sie einen Schluck Wein. Dann folgte sie Rami, dessen Freund Ray bereits auf der Schwelle zum Totenzimmer stand und ihnen entgegenschaute.
»Ich werde kein Licht machen, aber ich habe gerochen, dass im Zimmer Kerzen brannten.«
»Das stimmt«, gab Kate zu. »Sie - sie verloschen, als meine Tochter starb. Wie das Licht ihres Lebens.«
»Ich verstehe Sie«, sagte Ray leise und streichelte mit der Handfläche über ihr Haar.
Ray hatte inzwischen Zündhölzer hervorgeholt. Er rieb das Erste an und schirmte die Flamme ab, bevor er sie an den Docht heranbrachte, der sofort Feuer fing. Sekunden später brannte auch der Zweite, und beide Kerzen streuten ihr Licht über das Bett und die obere Hälfte des regungslosen Mädchenkörpers.
Kate Foreman ging von Rami weg und mit kaum hörbaren Schritten auf das Bett zu. Zum ersten Mal sah sie ihre Tochter als Tote. Sie hätte nie gedacht, dass es ihr gelingen würde, dermaßen intensiv auf die schmale, zerbrechlich wirkende Gestalt zu schauen.
Sie war es, und sie war es nicht!
Ihr Kind hatte sich in eine Puppe verwandelt. So blass und regungslos lag es auf dem Bett. Das Gesicht starr, die Haut von tanzenden Lichtflecken überdeckt, die auch in die
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