0691 - Die Werwölfe aus Atlantis
nicht akzeptieren, obgleich ich es muß. Hier stehe ich auf einer Seite, auf der anderen hält sich mein Vater auf. Wie soll ich beide Seiten zusammenbringen, wo ich doch genau weiß, daß sie nicht zusammenpassen, weil sie einfach zu verschieden sind? Können Sie mir einen Rat geben, Mr. Sinclair? Wissen Sie, wie ich das anfangen soll?«
»Es ist schwer«, erwiderte ich nach einer Pause des Nachdenkens, »aber es ist nicht unmöglich.«
»Dann sind Sie besser als ich.«
»Das glaube ich nicht, Nora. Ich versuche nur, anders zu denken. Den Fall von einer Seite aufzurollen oder anzupacken, an die Sie möglicherweise nicht denken.«
Sie blickte mir ins Gesicht. In der Frau arbeitete es, das war mir klar. Die Vorgänge, mein Kommen einschließlich, hatten einen Sturm der Gefühle in ihr ausgelöst, den sie nicht kontrollieren konnte. Deshalb war sie zu keinem Gedanken fähig.
Aber sie begann damit, über ihren Vater zu reden, und sie tat es mit wohlgesetzten Worten, so daß ich mir sehr bald ein Bild von diesem Mann machen konnte, der sehr viel anders gewesen war als die übrigen Menschen. Verschlossener, dennoch von einer inneren Heiterkeit. Er war Erstverkäufer in einem Geschäft für Wassersport und Angelausrüstungen gewesen, und das Angeln hatte auch zu seinen Leidenschaften gehört, neben dem Lesen.
»Was las er denn?« fragte ich.
»Alles.«
Ich mußte lächeln. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Nora, aber könnten Sie das nicht konkretisieren?«
Die Frau hob die Schultern. »In einem gewissen Maße schon. Mein Vater kannte die Literatur sehr gut. Er las Thomas Eliot ebenso wie James Joyce, Shakespeare oder Charles Dickens. Aber auch Poe, William Morris oder Bram Stoker gehörten zu seiner Literatur, in die ich Jules Verne ebenfalls einschließen möchte.«
»Hm!« machte ich und legte die Spitze des Zeigefingers gegen meine Stirn. »Was Sie da gesagt haben, ist alles schön und gut, Nora. Gab es denn ein bestimmtes Gebiet, das ihn besonders fasziniert hat?«
»Zuerst nicht…«
»Später denn?«
»Ja, etwa ein Jahr vor seinem Tod begann es. Mein Vater interessierte sich plötzlich für die Phantastik. Er las Bücher über fremde Welten, über versunkene Reiche. Ich weiß auch nicht, wo er sie aufgetrieben hat, aber er verschlang sie förmlich. An ein Buch kann ich mich besonders erinnern, weil es so alt war und sein Einband aussah, als würde er den folgenden Tag nicht überstehen.«
»Kennen Sie den Titel?«
»Sicher, den werde ich nie vergessen. Das Buch heißt Semerias!«
Sie legte eine Pause ein, wahrscheinlich wollte sie meine Reaktion abwarten. Aber die erfolgte nicht.
»Kennen Sie das Buch, Mr. Sinclair?«
»Nein, Nora, Sie denn?«
»Auch nicht. Mein Vater las es immer wieder. Er studierte es sogar und war jedesmal begeisterter oder perplexer. Das kam immer darauf an. Ich hatte den Eindruck, als hätte er nach dem Zuklappen wieder neue Erkenntnisse gewonnen.«
»Über Semerias?«
»So ist es.«
»Und wer war dieser Semerias?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Mein Vater jedenfalls zeigte sich begeistert. Er sprach von einer tiefen, vollkommenen, wenn auch teilweise furchterregenden Wahrheit, die hinter den Texten in diesem Buch stecken sollte.«
»Wurde er Ihnen gegenüber nie konkreter?«
»Nein, das war er nie. Er verschloß sich. Ja, er war immer sehr nachdenklich und verschlossen. Wenn ich einmal Fragen stellte, reagierte er nicht darauf.«
»Weshalb nicht?«
Sie lächelte etwas verloren. »Er hielt mich noch für zu jung oder nicht reif genug für gewisse Geheimnisse der Welt. Ich habe auch nicht näher darüber nachgedacht, da ich als Krankenschwester beruflich ausgelastet gewesen bin.«
»Das sind Sie jetzt nicht mehr?«
»Ausgelastet schon, aber nicht mehr als Krankenschwester. Ich arbeite für einen Pharma-Konzern und besuche Ärzte. Dieser Job ist zwar auch stressig, aber er bringt mehr ein.«
»Und hat nichts mit Semerias zu tun?«
»Richtig.«
Ich schaute auf den Glastisch, wo meine Finger Spuren hinterlassen hatten. »Semerias, also«, sagte ich leise, »ein Buch, ein besonderes Buch. Vielleicht ein Roman?«
»Keine Ahnung.« Nora schüttelte den Kopf. »Ich könnte mir vorstellen, daß es sich dabei mehr um ein Sachbuch handelt. Aber das sind reine Vermutungen.«
»Genau. Es wäre natürlich gut, wenn Sie das Buch noch hätten, Nora.«
Sie sprang plötzlich auf. »Das kann sogar stimmen. Ich habe einige Erinnerungsstücke von meinem Vater aufgewahrt. Da
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