0695 - Blut an bleichen Lippen
halb schloß, glaubte sie, die wispernden Stimmen der fremden Wesen zu hören.
Da hatte sie den Eindruck, einfach weggetragen zu werden, hinein in eine fremde Welt, die jenseits der sichtbaren lag, wo sich Geister und andere Wesen tummelten, um mit den Menschen ihren Spaß zu haben.
Der größte Teil der Wasserfläche lag so unbeweglich, daß er schon an einen matten Spiegel mit grünlicher Oberfläche erinnerte. Nur an gewissen Stellen warf sie Wellen, und die wiederum konnten von Lilian nicht eingesehen werden.
Da erschienen zwei Köpfe!
Nasse Gesichter, Haare, die angeklatscht auf den Köpfen lagen, Münder, die weit offenstanden, damit die Männer genügend Luft holen konnten.
Sie schwammen weiter.
Durch Zeichen hatten sie sich untereinander verständigt. Sie waren ein gut eingespieltes Team. Jeder wußte genau, was der andere wollte. Sie konnten sich aufeinander verlassen.
Sie schwammen von verschiedenen Seiten auf das Boot zu. Jetzt nicht mehr unter Wasser, zumindest schauten die oberen Hälften ihrer Gesichter aus dem grünen See hervor.
Lilian war ahnungslos - und glücklich. Ihre Lippen hatten sich zu einem Lächeln verzogen, sie wollte auch noch die nächsten Minuten genießen und war dermaßen tief in ihrem Tagtraum verstrickt, daß sie die Berührung an der Steuerbordseite zuerst nicht bemerkte.
Beim zweiten Zufassen der Hände fiel ihr das unmotivierte Schaukeln auf.
Sie schaute nach rechts!
Zwei nasse Hände umklammerten den Rand. Normale Hände; auch dieser Anblick trieb den Schrecken in Lilian hinein wie eine heiße Messerklinge, die den Körper ausbrennen wollte.
Wer war das?
Die nächste Bewegung spürte sie an der Backbordseite. Auch dort wurde das Boot gezogen und gedrückt.
Wieder zwei Hände!
Sie erstarrte.
Und plötzlich kam die Angst. Zugleich mit den Gesichtern der Männer, die sich abgestemmt hatten, um den Kahn zu entern. Das Boot schwankte gewaltig. Lilian schrie leise auf, sie breitete die Arme aus, um den nötigen Halt zu finden, und ihr Gesicht schien nur mehr aus Augen zu bestehen, so weit waren sie aufgerissen.
»Jetzt gehörst du uns!«
Einer hatte nur gesprochen, der andere aber nickte, und auf seinem Gesicht erschien ein faunisches Grinsen. Beide strömten den Geruch des alten Wassers ab.
Ein wenig faulig und morbide…
Lilian wollte etwas sagen, aber sie kam nicht dazu. Immer wieder mußte sie die Männer anschauen.
Sie hatte sie noch nie gesehen, doch das dreckige Grinsen der Kerle sagte mehr als alle Worte.
Sie wollten ihr etwas antun!
Schnell fühlte Lilian sich bedrängt. Einer hockte sich vor ihr nieder, der andere war in ihren Rücken gelangt, und sie spürte plötzlich dessen nasse Hände auf ihren Schultern, die den grünen Stoff direkt an die Haut klatschten.
Dann wisperte eine Stimme direkt an ihrem rechten Ohr. »Jetzt gehörst du uns, Kleine. Und zwar ganz…«
Sie wußte, was diese Worte zu bedeuten hatten, wagte aber nicht, daran zu denken.
Der Mann hinter ihr sprach auch nicht weiter, denn er handelte. Seine kräftigen Finger packten zu, und Lilian hörte ein ihr sehr bekanntes Geräusch, das immer dann entsteht, wenn Stoff reißt. Sie verlor fast ihren rechten Ärmel, saß dabei steif wie ein Eisgebilde und konnte nur flüstern: »Bitte nicht… bitte nicht…«
Der Mann vor ihr lachte. Er hatte sich einen dunklen Bart wachsen lassen, der um seinen Mund hing wie das nasse Fell einer Wasserratte. Auch von seinen Händen mit den schmutzigen Fingernägeln tropfte das Wasser, als er nach ihrem Ausschnitt faßte.
»Jetzt!« sagte er und riß.
Das Geräusch ging Lilian durch Mark und Bein. Er hatte so etwas Schreckliches, Endgültiges an sich. Ihr war, als würde sie nun alles verlieren, auf das sie stolz war.
Kälte ließ einen Schauer auf ihrer Haut entstehen. Der Kerl vor ihr glotzte gierig auf das Unterzeug.
Sie trug ein Hemd, und es war als Bustier geschnitten.
Der Ansatz ihres kräftigen Busens machte den Kerl vor ihr fast verrückt. Er griff nach ihr.
Wieso Lilian reagierte, was plötzlich über sie kam, wußte sie nicht zu erklären.
»Ich will dich küssen!« hörte sie ihn noch keuchen, aber sie war schneller als er.
Ihre Hand schoß ebenfalls vor. Die Finger waren dabei gespreizt, sie zielten auf das Gesicht, und sie trafen. Sie hörte den Schrei. Unter ihren Fingerkuppen spürte sie etwas Weiches, beinahe schon Glitschiges, und sie sah nicht, daß es die Augen des Mannes waren, die sie getroffen hatte. Der Schrei war
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