0695 - Blut an bleichen Lippen
sie sogar sehr, doch die dunkelrote Rose hier auf dem Boden der Kirche kam mir schon ein wenig deplaziert vor. Sie gehörte in eine Vase, aber nicht hinter diesen Altar, wie ich fand.
»Was sagen Sie, Mr. Sinclair?«
Ich hob die Schultern. »Was soll ich Ihnen antworten, Mr. Walker? Ich weiß es nicht.«
»Das ist nicht normal.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Obwohl die Rosen ja die Blumen der Liebe sind, sehe ich dies mit anderen Augen.«
»Ich möchte da nicht widersprechen, Sie aber gleichzeitig fragen, was an dieser Tatsache, daß hier eine Rose liegt, Sie so erregt hat, daß Sie mir Bescheid gaben.«
»Sie werden die Lösung noch bekommen und dann ebenso denken wie ich, Mr. Sinclair.«
»Und wann oder wie?«
Er streckte den Arm aus. Mit dem Zeigefinger deutete er auf die Blume. »Gehen Sie hin, Mr. Sinclair«, flüsterte er mit Zitterstimme. »Bücken Sie sich und fassen Sie die Rose an ihren Blättern an.«
»Schön. Und was noch?«
»Machen Sie das bitte.«
Er hatte so drängend gesprochen, daß ich mich nicht länger weigern konnte. Seltsam erschien es mir schon, aber ich hatte Schlimmeres erlebt als diesen eigentlich schlichten Wunsch.
Deshalb tat ich ihm den Gefallen, legte die kurze Distanz mit zwei Schritten zurück und ging dicht neben der Rose in die Knie, wobei mir tatsächlich ihr Geruch entgegenströmte, der mich allerdings etwas irritierte.
Ich wußte, daß Rosen intensiv duften können. Diese aber roch derart stark, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Es war auch nicht unbedingt der Rosenduft, der mir entgegenströmte, in ihn hinein hatte sich noch ein anderes Aroma gemischt.
Etwas Fauliges…
Auch das konnte im Prinzip als normal angesehen werden, weil Rosen eben so intensiv riechen, bevor sie verblühen. Aber nicht so intensiv, nicht nach sterbender Natur oder fauligem Wasser und Vergänglichkeit - ja, und sogar nach Tod.
Hinter mir sprach der Küster. Seine Stimme schien von der Eingangstür der Kirche her mich zu erreichen, so ungewöhnlich entfernt klang sie, und ich kam mir vor, als würde ich im Bann dieser tiefroten, ungewöhnlichen Blume stehen.
»Fassen Sie die Rose an, Mr. Sinclair. Dabei spielt es keine Rolle, welches Blatt sie berühren. Sie sollen es nur zwischen Ihren Fingern zerreiben.«
»Okay, wenn Sie meinen.« Ich wollte ihm gern den Gefallen tun. Zum Blütenkelch hin wuchsen die Blätter dichter zusammen, das war wie bei einem Salatkopf.
Ich suchte mir ein Blatt aus, berührte es mit der Daumen- und Zeigefingerkuppe, gab den Fingern ein wenig Druck und begann damit, das Blütenblatt zu reiben.
Es fühlte sich fettig oder ölig an. Kein Unterschied zu anderen Rosenblättern.
»Reiben Sie weiter, Sir…«
Ich tat es. Ich rieb, ich…
Verdammt, was war das?
Im ersten Augenblick war ich irritiert. Aber diese Irritation verwandelte sich in Staunen oder Entsetzen, denn ich spürte zwischen meinen Fingern kein Rosenblatt mehr, sondern eine rote, sirupartige Flüssigkeit, die tropfenweise in den Kelch lief.
Ich faßte ein anderes Blatt an.
Es geschah das gleiche.
»Zerdrücken Sie den Kelch, Mr. Sinclair!«
Als ich meine Hand um die Blume schloß, hatte ich für einen Moment das Gefühl, ein Lebewesen zu zerdrücken, aber es war nur eine Rose, doch eine sehr ungewöhnliche.
Den Druck der Blätter auf meiner Haut merkte ich so gut wie nicht. Dafür aber die Flüssigkeit, die sich dort verteilte, und ich öffnete meine Faust, um einen Moment später die Hand zu drehen, damit ich gegen sie schauen konnte.
Sie war rot.
Rot von Blut!
Keine Krümel, keine Reste der Blätter, nur eben dieses Blut. Ich winkelte meinen Daumen an und fuhr mit der Kuppe über den Handteller hinweg, wo ich mit dem Daumen einen Streifen durch die Blutschicht zog und mir das Zeug auch unter den Nagel schmierte.
Blut besitzt einen bestimmten Geruch. Ich hatte oft genug damit zu tun, hob die Hand an und ließ meine Nase dicht darüber hinwegschweben.
Ja, so roch Blut…
Menschenblut!
Ich drückte mich wieder hoch, drehte mich um und sah den Küster wie eine Schattengestalt auf der obersten Stufe der Treppe stehen. Ich hörte ihn auch fragen.
»Nun, habe ich Ihnen zuviel versprochen?«
»Bestimmt nicht«, erwiderte ich leise.
Er nickte und sah dabei aus, als würde ihm dies schwerfallen. »Es ist Blut, Mr. Sinclair, es ist sogar das Blut eines Menschen, und es ist nicht die erste Rose, die ich hier hinter dem Altar gefunden habe. Verstehen Sie jetzt meine
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