0695 - Blut an bleichen Lippen
tiefer senkte, wie eine gewaltige Decke, die die beiden Männer mitsamt dem Boot in Kürze zu erdrücken drohte.
Das Ufer hatte eine andere Form bekommen. Die dort wachsenden Büsche waren größer, voluminöser geworden. Dafür sorgte der wallige Dunst, der sie umschlungen hielt.
Das war schlimm, sehr schlimm sogar. Ein böses Omen, das ihnen entgegengeschickt wurde.
Der See selbst lag ruhig. Nichts rührte sich. Nur die ab und zu eintauchenden Ruder erzeugten Wellen oder hinterließen leise, klatschende Geräusche.
Seine Furcht wuchs.
Calvin merkte davon nichts. Er hockte vor der Ruderbank und brabbelte unverständliches Zeug. Die Augen waren gerötet, die Hände zu Fäusten geballt, ein Zeichen für seine unbändige Wut, die in ihm kochte.
Sicherlich hatte er Lilian Rache geschworen. So dachte Joey nicht. Sie konnten froh sein, wenn sie gesund und heil das Ufer erreichten und bis dahin nichts passierte.
Schilf wuchs in den See hinein. Es schwankte leicht. Auch darüber hinweg glitt der schwache Dunst, wie von geisterhaften Händen getrieben. Die Furcht des Ruderers steigerte sich. Obwohl das Ufer immer näher rückte, kam es ihm vor wie eine andere Welt, die sich über die normale geschoben hatte. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn Lilian Demarest als Gespenst erschienen wäre, um sich zu rächen.
Der Schilfgürtel schwankte ein wenig, als der Bug sich hineinschob. Sie hatten sich keine gute Stelle für ein Anlegen ausgesucht. Da gab es bessere, wo sie dann trockenen Fußes das Ufer erreichen konnten.
Der Widerstand des Schilfs hielt das Boot fest. Es glitt nicht mehr weiter.
Joey stand auf, nickte Calvin zu. »Los, du kannst den Kahn jetzt verlassen.«
»Wo ist sie?«
»Weiß ich nicht.« Joey trat über die Bordwand. Fuß und Bein fanden eine Lücke zwischen den Rohren. Er hörte es klatschen, als sein Fuß das Wasser berührte und dann einsank.
Bis zu den Schienbeinen reichte ihm das Wasser. Der Grund war weich und schlammig. Das Zeug hatte sich dort verteilt, als wollte es denjenigen, der es durchschritt, festhalten.
Calvin ging hinter seinem Kumpan her. Er fluchte, weil die Rohre, die Joey zur Seite gebogen hatte, wieder zurückschnellten und sich ihm in den Weg stellten.
»Verdammt, ich will…«
»Wir sind da, Calvin!« Noch ein langer Schritt, und Joey hatte Boden unter den Füßen. Er drehte sich um, reichte Calvin die Hand, dessen Augen wieder anfingen zu tränen.
Auch er kletterte an Land. Beide Männer waren sofort von dünnen Dunstschleiern umweht. Die Kronen der mächtigen Bäume im Hintergrund waren kaum zu erkennen.
Ähnlich erging es den Trauerweiden. Auch gegen sie flossen die trägen Wolken und ließen sie als gespenstisch anmutende Monstren erscheinen.
Joey hatte bereits darüber nachgedacht, wie sie weiter vorgehen sollten. Jedenfalls mußten sie die Gegend verlassen. Man würde Lilian vermissen, man würde nach Spuren suchen und die auch finden. Da war es besser, wenn sie sich aus dem Staub machten.
»Alles klar?« fragte er.
»Bis auf die Augen.«
»Dann komm.«
Sie kamen nicht weit. Nach drei Schritten blieben sie stehen, wie von einer Wand gestoppt.
Sie hatten eine Stimme vernommen.
Eine Frauenstimme, weich, lockend, aber mit einem nicht zu überhörenden Unterton.
»Wolltet ihr mich nicht küssen, ihr beiden?«
Lilian! Das war Lilian Demarest.
Joey und Calvin waren sprachlos. Wie eine Eisdusche hatte sie der Schock getroffen und unbeweglich gemacht.
Sie schauten sich an.
Calvin stotterte leise ihren Namen, während Joey nicht fähig war, ein Wort zu sprechen, da ihn Alpträume quälten. All den Schrecken, den er sich bei ihrer Ruderfahrt über den See ausgemalt hatte, schien plötzlich wahr zu werden.
Sie hatte das Ufer vor ihnen erreicht, sie war nicht ertrunken, aber es stimmte trotzdem nicht alles.
Da war ihre Stimme.
Sie klang so anders, so hohl, als würde sie direkt aus einem Grab rufen.
Konnte sich eine Stimme innerhalb einer kurzen Zeitspanne derartig verändern?
In Joeys Mund lag eine Wüste. Ausgetrocknet, kratzig. Auch wenn er es gewollt hätte, er hätte es kaum geschafft, nur ein Wort hervorzubringen. Dann aber riß der Bann.
Er drehte sich nach rechts.
Genau dort stand sie!
Lilian hatte sich einen bestimmten Platz ausgesucht, eine freie Stelle, im Rücken aber durch einen Baum geschützt, der hinter ihr wie ein mächtiger Leibwächter hochwuchs. Seine Zweige hatten sich durch den Nebel verändert und erinnerten mehr an die blanken,
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