0695 - Blut an bleichen Lippen
Schlund fegte ein gewaltiger Wirbel hervor. Er kam mit der Stärke eines konzentrierten Orkans und war so schnell, daß ich ihm nicht ausweichen konnte.
Zwar duckte ich mich noch, wollte auch zur Seite huschen, aber das packte ich nicht mehr. Sie hob ab, sie orgelte auf mich zu, von heulenden und pfeifenden Geräuschen begleitet, und die verfluchte Wucht riß mich von den Füßen.
Ich knallte auf den Rücken, der Kies preßte sich gegen meinen Körper, und er war verdammt nicht weich, aber ich schaffte es einfach nicht mehr, auf die Beine zu kommen.
Im nächsten Augenblick umgab mich eine Windhose, die an mir zerrte wie ein rasender Kreisel.
Noch auf dem Rücken liegend drehte ich mich immer schneller und bildete einen Wirbel, den ich aus eigener Kraft nicht stoppen konnte.
Unter mir rutschte der Kies, und die einzelnen Stücke spritzten in alle Richtungen weg, während über mir die Gestalt erschien, die sich jetzt gelegt hatte.
Das Gesicht zuckte über dem meinen wie ein Zerrbild hin und her. Das Maul hackte nach mir, während ich mich auch weiterhin drehte, und ich dachte daran, daß mir der Geist einen Kuß versprochen hatte, was eigentlich ein Irrsinn war.
Ich wollte die Arme anheben, durch die reißende Fliehkraft aber war es unmöglich.
Ich konnte mich trotzdem wehren. Mein Kreuz stemmte sich gegen die andere Kraft. Ich spürte den scharfen Schmerz auf der Haut, und der wiederum strahlte aus.
Auch nach oben!
Auf einmal zuckte das Gesicht und dann die gesamte Gestalt hoch, als wollte sie sich im Geäst eines Baumes verkrallen. Ein böser Geist, der das Grauen diesmal nicht über einen Menschen hatte bringen können, denn er jagte durch die Baumkrone und schien sich mit den tiefen Wolken vereinigen zu wollen.
Dann war er weg.
Der Sturm hörte auf. Der Kies unter mir sackte nicht zusammen, er spritzte auch nicht mehr weg, die plötzliche Ruhe empfand ich als ebenso unnatürlich wie den Wirbelsturm.
Ich blieb erst einmal liegen. Über mir bewegte sich das Muster der Wolken, dann drang eine dünne hohe ängstlich klingende Stimme an meine Ohren.
»Mr. Sinclair… Mr. Sinclair! Leben Sie noch? Melden Sie sich, Mr. Sinclair. Mein Gott…«
»Ja, ich bin noch hier«, antwortete ich, war mir aber nicht sicher, ob mich der Küster auch verstanden hatte. Ich jedenfalls setzte mich hin, preßte meine Hände gegen die Stirn und mußte erst einmal zu mir finden.
Der Angriff hatte mich geschockt und auch die Worte, die mir die Erscheinung gesagt hatte.
Sie hatte vom Küssen gesprochen…
Es war mir ein Rätsel, aber instinktiv dachte ich daran, daß mehr dahintersteckte.
Möglicherweise sogar das Motiv.
»Mr. Sinclair, ich bin jetzt hier.« Die Stimme des Küsters erreichte mich aus dem Garten.
»Okay, ich komme zu Ihnen.«
»Ich muß aber die Leiter aufrichten, Sie ist vom Wind umgeworfen worden.«
»Schon gut.« Wie ein Greis kam ich auf die Beine, schaute mich um, ohne die Erscheinung entdecken zu können. Sie hatte einen Weg gefunden, um zu verschwinden.
Ich ging auf den Rand des Garagendachs zu und blieb stehen, als ich die Leiter sah.
Der Küster stand unten und hielt sie fest. Als er mich entdeckte, durchströmte ihn Erleichterung. Er preßte seine Hand gegen die Brust und sagte: »Meine Güte, daß Sie noch leben, kommt mir beinahe vor wie ein Wunder, Sir.«
»Manchmal hat man eben Glück.«
»Wie Sie das sagen.«
Ich kletterte nach unten und wurde von den zahlreichen Fragen des Mannes empfangen.
Antworten konnte ich ihm nicht geben. Ich sagte nur, daß er den Sturm ja selbst miterlebt hätte.
»Ja, wie aus dem Nichts.«
»Oder aus dem Maul der Erscheinung.«
»Warum?«
»Da müssen Sie mich schon etwas Leichteres fragen, Mr. Walker. Ich weiß es nicht.«
»Und was jetzt?«
Ich hob die Schultern. »Die Erscheinung ist verschwunden, aber sie wollte mich küssen, haben Sie das auch gehört?«
Walker trat zurück und zog ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Was wollte er?«
»Mich küssen.«
»Das ist doch verrückt. Unglaublich.«
Ich hob die Schultern. »Wem sagen Sie das! Leider entspricht es den Tatsachen.«
»Ja, ja«, murmelte er. »Das merke ich schon. Das ist alles so seltsam und ungewöhnlich.« Er hob die Schultern. »Also ich weiß nicht, was ich da noch sagen soll.«
Ich lächelte. »Am besten sagen Sie nichts, einfach gar nichts. Und denken nur nach.«
»Worüber denn?«
»Über das Küssen«, erwiderte ich sarkastisch und reinigte mich von den
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