0695 - Blut an bleichen Lippen
getan.
Okay, die Leute hatten immer wieder davon gesprochen, daß der See verwunschen war, aber die erzählten viel, und der Küster hatte ihren Worten nie so recht getraut. Bis zum heutigen Tag, wo ihm die berechtigten Zweifel gekommen waren, denn wer hatte schon den Anblick eines Geistes oder Gespenstes ›genießen‹ können?
Das war nur den wenigsten Menschen zuteil geworden. Er gab aber zu, daß er sich nicht besonders glücklich deswegen fühlte, im Gegenteil, es paßte ihm überhaupt nicht.
Das Plätschern der Wellen war längst verstummt. So, als hätte es die leicht trübe Luft aufgesaugt. In diesem Augenblick kam sich der Küster so allein vor. Alles bereitete ihm Angst, selbst der abgestellte Rover stellte eine Unsicherheit dar, obwohl er bestimmt völlig harmlos war.
Walker ärgerte sich darüber, daß er überhaupt mit an den See gefahren war, aber er hatte nicht anders gekonnt, weil er auf den Fall aufmerksam gemacht hatte.
Er drehte sich um.
Jetzt lag der Wald vor ihm.
Ein Reich für sich, düster und geheimnisvoll. Bedeckt von grünen Schatten, in die sich allmählich eine andere Farbe hineinmengte, ein tiefes Grau, was wiederum anzeigte, daß sich der Tag dem Ende zuneigte. Noch war die Dämmerung nicht eingefallen, aber der Himmel zeigte auch keinen hellen Sonnenfleck. Er hing über der Gegend wie eine düstere Decke.
Es war sicherlich übertrieben, zu behaupten, daß es eine Drohung gewesen wäre, ihm aber kam sie so vor, und er spürte den kalten Schauer auf der Haut. Dem Küster war, als hätte jemand mit einem Pinsel darüber hinweggestrichen.
Es war nicht sehr warm, dennoch schwitzte Walker. Immer öfter wischte er sein Gesicht ab, aber der Schweiß kehrte prompt zurück, so daß er sich vorkam wie in einer Sauna. Alles bedrückte ihn, selbst die Kronen der Bäume empfand er als beängstigend. Jeden Augenblick konnten sie sich auf ihn niedersenken und ihn unter sich begraben.
Wo bewegte sich etwas?
Plötzlich überkam ihn der Eindruck, aus dem tiefen Schatten hervor beobachtet zu werden.
Irgendwo lauerten die Fremden, hockte der Unsichtbare, hatte sich das Grauen gehalten.
Kalt rann es über seinen Rücken.
Der Wind fuhr über den See hinweg, er kräuselte die Wasserfläche, spielte mit den Wellen…
Und der Wind schwieg.
Stumm standen die Bäume und bildeten ein natürliches Mauerwerk gegen irgendwelche Feinde.
Mason Walker ging einfach davon aus, daß sich im Unterholz oder zwischen den Baumstämmen, wo sich auch die Schatten verdichteten, etwas verbarg. Etwas Unheimliches, für Menschen nicht geeignet. Vielleicht auch etwas Gefährliches.
Sein Atem hatte sich beschleunigt. Er konnte den Blick nicht abwenden, die Augen fingen an zu brennen, weil er einfach zu lange in eine bestimmte Richtung gestarrt hatte.
Er versuchte sich einzureden, daß da nichts war, aber er konnte einfach nicht. Da gab es eine Grenze, und es war ihm unmöglich, diese zu überspringen.
War Lilians Geist gekommen?
Geister sind immer kalt, hatte er gelesen oder gehört. Oder sie strömen zumindest eine gewisse Kälte aus, die der Mensch spürte, wenn ihm ein Geist zu nahe kam.
Noch merkte er nichts…
Etwas hastig drehte er sich um, weil er unbedingt sehen wollte, wie weit Sinclair bereits auf den See hinausgerudert war. Die Mitte hatte er längst erreicht. Er bewegte sich auch nicht mehr weiter, sondern hatte die beiden Ruder eingeholt, hockte im Kahn und schien darauf zu warten, daß etwas geschah.
Aber es passierte nichts, nicht bei ihm…
Walker drehte sich wieder um.
Der Schrei war bereits auf dem Weg in Richtung Mund, blieb aber auf halbem Wege stecken, denn was er zwischen dem Unterholz zu sehen bekam, raubte ihm beinahe den Verstand.
Dort stand Lilians Geist!
Diese bleiche, neblige Gestalt mit dem harten und knöchern wirkenden Gesicht und den hochstehenden, beinahe leeren Augen, wirkte wie eine lebensgroße Plastik, die von einem Künstler in den Wald hineingestellt worden war.
Walker bekam es mit der Angst zu tun. Er hatte das Gefühl, daß der Geist nur seinetwegen erschienen war, und dieser Eindruck verstärkte sich, als diese Unperson plötzlich den Mund öffnete.
Nein, ihr Maul, das Maul zum Küssen!
War sie erschienen, um ihm den Todeskuß zu geben? Aber er hatte nichts getan. Er war sich keiner Schuld bewußt, die nach einer Rache aus dem Jenseits geschrieen hätte.
Warum nur…?
Die Gestalt schwebte näher. Nicht einmal die Zweige des Unterholzes bewegten sich, als sie
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