0695 - Blut an bleichen Lippen
konnte der Kollege nicht glauben. Er zeigte auf das Telefon. »Durch den Anruf Ihres Kollegen?«
»Genau.«
»Wer war es denn nun?«
Suko wandte sich nicht an den Polizisten, sondern an Mandy Miller. »Sagt Ihnen der Name Lilian Demarest etwas, Mandy?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nichts, überhaupt nichts. Nie gehört von der Frau.«
Mandys Augen weiteten sich noch mehr. Sie fuhr mit der Zungenspitze über die Lippen und formulierte ein leises: »Das verstehe ich überhaupt nicht, Inspektor.«
»Es wird auch nicht nötig sein, daß Sie es begreifen, wir jedenfalls werden uns bemühen, diesen ungewöhnlichen Schutzengel, der so gern küßt, zu stellen.«
»Wo wollen Sie das tun?«
Suko stand auf und drehte sich dem Kollegen zu, der die Frage gestellt hatte. »Am Stadtrand von London, wo es nett und freundlich ist und man sich noch über ein Stück Natur freuen kann. Dort erwartet mich mein Kollege, und da hat er auch diese ungewöhnliche Erscheinung getroffen, wenn Sie verstehen.«
»Nein, ich verstehe gar nichts.«
»Macht nichts.« Suko winkte ab. »Es ist nicht mehr Ihr Fall.« Er wandte sich an Mandy. »Wir werden noch voneinander hören, wenn alles vorbei ist. Versuchen Sie bitte, das Schlimme zu vergessen.«
Sie nickte, ohne allerdings damit überzeugen zu können.
Suko verließ den Raum. Draußen schlug er mit der flachen Hand gegen die Wand. Das war wieder einmal ein Fall, wo ein Rädchen ins andere griff und der deshalb wie geschmiert lief.
Er war ja zunächst skeptisch gewesen, was die Aussagen der Zeugin anbetraf. Dieses Gefühl hatte ihn jedoch verlassen und einem anderen Platz geschaffen.
In ihm war das Jagdfieber erwacht…
***
Auf der Fahrt zum See oder zum Teich hatte ich den Eindruck, mich überhaupt nicht mehr durch London zu bewegen, sondern mich in irgendeinem abgeschiedenen Hochtal in Cornwall zu befinden, denn so einsam war die Landschaft geworden.
Der Wald wuchs hier ziemlich dicht, er bildete Markierungen und Grenzen. Je näher wir dem Wasser kamen, um so mehr veränderte sich die Luft. Sie roch auch anders, war feuchter geworden. Tief hingen die Wolken, sie ließen nur wenige Sonnenstrahlen durch. Es war ein seltsames Licht, und es verdiente den Namen kaum.
Die Schatten der Abenddämmerung waren noch nicht herangeeilt. Dennoch rollten wir durch ein grünlichgraues, trübes Zwielicht, das mit langen Spinnweben verhangen war, so daß ich den Eindruck bekam, unser Wagen würde jedesmal in eine neue Welt hineinbrechen.
Die asphaltierten Wege oder Straßen hatten wir hinter uns gelassen. Wir rollten über einen schmalen Feldweg, durch kleine Mulden, über Hügel und Buckel.
Mason Walker hockte schweigend neben mir. Er hatte die rechte Hand zur Faust geballt und sie so gedreht, daß er mit seinen Oberzähnen in seinen Handballen beißen konnte. Er wirkte wie ein verschüchtertes Mädchen, das sich im Wald fürchtete.
Manchmal ließ er den Arm nach unten fallen, legte die Faust auf den Oberschenkel und drehte sich um, weil er aus dem Heckfenster schauen wollte, ohne jedoch etwas erkennen zu können. Es waren nur die hohen Büsche zu sehen, oder die Zweige der Bäume, die sich oft genug über dem Weg trafen und ihn an einigen Stellen zu einem grünen Tunnel werden ließen.
»Es verfolgt uns niemand«, sagte ich, weil mir die Blicke des Küsters auf die Nerven fielen.
Er atmete seufzend, als würde er unter einer ungemein schweren Last leiden. »Am liebsten würde ich aussteigen.«
»Das können Sie. Sagen Sie mir nur, wie ich zu fahren habe.«
Er winkte ab und fing an zu quengeln. »Es hat ja alles keinen Sinn, Mr. Sinclair. Wenn ich allein zurückgehe, laufe ich dieser Kreatur möglicherweise in die Arme, und das will ich nicht.«
Ich grinste insgeheim. »Okay, dann bleiben Sie bei mir, bis ich in das Boot geklettert bin.«
Er holte durch beide Nasenlöcher tief Luft. »Wollen Sie wirklich auf den See?«
»Natürlich.«
»Und wenn dieser… Geist der toten Lilian Demarest nun erscheint? Was machen Sie dann?«
»Werde ich ihn fragen, ob er mich küssen möchte.«
»Sie haben vielleicht Nerven«, flüsterte Mason Walker.
»Das muß ich.«
»Haben Sie es sich denn nie vorgestellt, daß Sie es nicht schaffen könnten und der andere stärker ist?«
»Daran denke ich nicht.«
Er drückte kurz gegen seine Nase, verfiel für einen Moment in brütendes Schweigen und hatte endlich seine Formulierung gefunden. »Denken so Helden, Sir?«
»Nein, bestimmt nicht.
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