0696 - Horror aus dem Eis
auf.
»Sie überschätzen mich, Ty. So groß ist mein Einfluss nun auch wieder nicht. So etwas würde ich eher Ihnen Zutrauen.«
»Ich mir auch«, flüsterte Ty Seneca. »Ich mir auch…«
***
Zur gleichen Zeit knieten viele Breitengrade und einen gewaltigen Temperaturschock weiter nördlich Hank und Rose vor dem steinernen Altar, an dessen Fuß sich das Lager des alten Mannes befand.
Zum ersten Mal, seit die beiden die Höhle betreten hatten, waren seine Augen geöffnet. Sie musterten die ehemaligen Menschen interessiert.
»Zu welchem Volk gehörtet ihr, bevor ihr zu uns kamt?«, fragte er mit einer Stimme, die wie altes Leder knarrte.
»Zum Volk der Inuit«, sagte Rose.
»Kanadier«, entgegnete Hank gleichzeitig. Als er Agkars verwirrten Blick bemerkte, lächelte er: »Es ist ein wenig kompliziert.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nicht mehr, mein Sohn. Jetzt nicht mehr. Jetzt gehört ihr, du und dein Weib, zum Volk der Tulis-Yon. Euer Leben kennt nur zwei Aufgaben: Den Hong Shi zu bewachen und Kuang-shi zu dienen.«
Weder Hank noch Rose hatten sich je zu Religionen hingezogen gefühlt, ob es sich dabei um die alten Mythen ihres Volkes oder um die neuen Mythen der Weißen handelte. Im Teufelskreis aus Armut, Gewalt und Sucht hatte sie das nie interessiert.
Jetzt aber spürten beide die Macht, die von dem Namen ihres neuen Herrn ausging, und Hank ahnte zum ersten Mal in seinem Leben, warum Menschen Paläste für ihre Götter errichteten.
»Kuang-shi«, flüsterte er. »Wann werden wir ihn sehen?«
Agkars Blick verlor sich in einer Welt, die den anderen verschlossen blieb.
Seine Lider senkten sich und Hank glaubte schon, er sei eingeschlafen, als er schließlich doch antwortete: »Schon bald. Wenn unsere Zahl groß genug ist, werden wir wie ein Sturm über die Welt kommen und unserem Herrn wieder ins Angesicht blicken können, so wie es einst war. Habt Geduld, meine Kinder…«
Seine Stimme wurde zu einem Wispern und erstarb. Rose sah zum Altar, auf dem ein unscheinbarer schwarzer Stein lag, der von getrockneten Blumen eingerahmt wurde.
»Warum nennen sie ihn Hong Shi, den roten Stein, wenn er doch schwarz ist?«, fragte sie.
Hank dachte darüber nach, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht war er vor langer Zeit einmal rot. Wir sollten Agkar fragen, wenn er das nächste Mal aufwacht. Er wird die Antwort wissen.«
Die beiden schwiegen und betrachteten den Hong Shi. Nach einer Weile sah Rose beinahe scheu zu ihrem Ehemann und sagte: »Das, was wir waren, bevor wir die Höhle betraten, erscheint mir fast wie ein Traum. Die Bilder verblassen. Ich weiß zwar noch, was wir getan haben, aber ich verstehe nicht mehr, warum. Es ist alles so weit weg.«
»Ich verstehe unser altes Leben auch nicht mehr. Es ist gut, dass uns die Tulis-Yon gefunden haben. Jetzt haben wir endlich ein Ziel und einen Herrn, dem wir dienen dürfen.«
Er strich Rose zärtlich über den Rücken und dachte daran, wie er nach seiner Verwandlung ins Haus gestürmt war. Er hatte seine Frau gepackt, ihre Wirbelsäule am Türrahmen zertrümmert und ihr den Bauch aufgerissen. Noch immer spürte er den Geschmack ihres Blutes auf seiner Zunge.
Ja, es war gut, ein Tulis-Yon zu sein.
Rose streckte neben ihm die Nase in die Luft. »Carter und Joamie kommen zurück. Sie haben einen Menschen dabei.«
Hank stand auf und ging zum Höhleneingang. Der Sturm zerrte an seiner blutigen Jacke, als er in die Kälte trat, um die beiden Jäger zu begrüßen. Schon bald würde sich ein neuer Tulis-Yon vor dem Altar verneigen.
Auch das war gut.
***
»Ich bin unwürdig, Vater«, sagte Geoffrey. »Ich habe dich ein zweites Mal enttäuscht.«
Das ist wohl wahr, dachte Fu Long. Laut sagte er jedoch: »Lass mich in deinen Gedanken sehen, was geschehen ist.«
Der junge Vampir hob den Blick und wartete mit sichtlicher Nervosität auf die Reaktion seines Vaters. Die anderen Familienmitglieder hatten sich soweit wie möglich an den Eingang der Höhle zurückgezogen.
Es war ihnen anzusehen, dass sie am liebsten an einem anderen Ort gewesen wären, aber der Sturm tobte immer noch mit unverminderter Heftigkeit.
Nur Jin Mei und Elizabeth wagten sich näher an Fu Long heran, die eine, weil sie seinen Zorn nicht fürchtete, die andere, weil sie sich schuldig fühlte.
Fu Long betrachtete Geoffreys Erinnerungsbilder schweigend und trat einen Schritt zurück.
»Ich bin ein Narr«, sagte er vehement.
Geoffrey und Elizabeth sahen
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