0699 - Das Erwachen der Hexe
stehen blieb.
»Rühr dich nicht, Kyle!«
»Keine Sorge.« Er sprach schleppend und schaute mir zu, wie ich den Kopf senkte.
Ich war viel gewohnt, aber dieses Bild traf mich so schwer wie selten etwas.
Tricia lag vor mir.
Aber wie sah sie aus!
Was war mit ihrem Gesicht geschehen? Für mich war es nur noch eine zuckende Masse ohne Haut.
Rohes Fleisch, Blutgerinnsel und auch blutig verkrustete Lippen.
Ich hob den Blick.
Aber da genau sprach sie.
»John…«, sie schien mich erkannt zu haben. »Du bist zu spät gekommen. Die Hexe ist weg. Ja, sie ist weg. Sie ist jung geworden, ich wurde alt. Der Austausch hat stattgefunden. Sieh mein Gesicht an. Ich fühle mich wie eine Mumie, die über Jahrhunderte im Grab gelegen hat. Ich kann es nicht mehr länger aushalten. Das Leben rinnt weg. Ich sterbe, John…« Sie versuchte einen Arm anzuheben, und ich wusste, was sie wollte.
Deshalb kam ich ihr entgegen und hielt ihre linke Hand.
Nur mühsam brachte ich ihren Namen über meine Lippen. Sie wollte etwas sagen, da aber merkte ich, dass auch der letzte Lebensfunke in ihr verloschen war.
Der Blick ihrer Augen brach.
Er wurde leer, so verdammt leer und tot…
Vorsichtig drückte ich ihren Arm zurück. Dann schaute ich hoch. Noch immer stand Kyle wie eine Statue hinter dem Sarg. In mir flammte eine wahnsinnige Wut auf diesen Kerl hoch. Hinter mir hörte ich die anderen atmen. Ich bekam feuchte Hände, eine Gänsehaut bildete sich in meinem Nacken und auch dem Rücken.
»Kyle!«, sprach ich mit einer Stimme, die ich kaum selbst erkannte. »Du wirst mir einiges zu erzählen haben. Und gnade dir Gott, wenn du…«
»Lass ihn aus dem Spiel, Sinclair.« Plötzlich lachte er. Sein Gesicht war zu einer Maske des Triumphs und der diabolischen Freude geworden. »Wir haben es geschafft, nicht du, Bulle. Assunga ist erwacht, der Austausch konnte stattfinden, und sie ist gegangen.«
»Ja, das weiß ich. Wohin ging sie?«
»Sie wird ihn suchen und finden!«
»Wen?«
Kyle genoss sein Wissen, wollte es spannend machen und ließ sich mit der Antwort Zeit.
Nur hatte ich keine Lust, hier den Kasper zu spielen. Ich hob meine Beretta. »Wen, verdammt?«
»Schon gut, Sinclair, ich sage es dir. Einen mächtigen Verbündeten, einen großartigen Schwarzblüter. Er nennt sich Dracula II…«
***
Will Mallmann, der Super-Vampir, also! Dracula II. Eine Bestie. Ein untotes Schreckgespenst.
Ich wusste nicht, welche Vergleiche mir noch durch den Kopf wirbelten, als ich vor Kyle stand und das Gefühl hatte, mir wäre der Boden unter den Füßen weggezogen worden.
Das war unglaublich, und doch musste ich es akzeptieren, denn Mallmann, das wusste ich, suchte schon sehr lange nach einem oder nach einer Verbündeten.
Assunga also war es.
Eine Hexe, und er war ein Vampir!
Welch ein Paar!
Die Antwort hatte mich dermaßen erschreckt, dass ich den eigenen Herzschlag als Echo an den Rippen spürte. Ich musste mich wirklich beherrschen, um nicht loszuschreien oder über Kyle herzufallen, der mich mit einem arroganten Ausdruck im Gesicht anschaute und seinen verdammten Sieg einfach nur genoss.
»Haben Sie etwas dagegen, dass ich jetzt gehe?«, höhnte er. »Sie können mir und meinen Freunden nichts beweisen. Die Schattenkirche und ihre Mitglieder haben nichts Böses getan.«
»Und die Entführung der Tricia Bell?«
Kyle lächelte widerlich. »Wo ist sie? Sehen Sie eine Tricia Bell? Ich sehe sie nicht. Ich kann mich auch an nichts erinnern, Sinclair. Gut, Sie werden mich vor Gericht stellen wollen, aber ich bin nicht vorbestraft, man wird mir nichts beweisen können. Sie haben in diesem Fall schlechte Karten.«
Das wusste ich selbst. Vielleicht würde Kyle eine Geldstrafe bekommen oder einige Monate auf Bewährung. Wie dem auch sei, der richtige Beweis fehlte, und dass es eine Verbindung zwischen ihm und Zengo gab, würde er immer abstreiten.
»Kann ich gehen, Sinclair?«
»Ja, hauen Sie ab!«
»Wenn noch Fragen sind, Sie wissen ja, wo Sie mich erreichen können.«
Am liebsten hätte ich ihm in den Hintern getreten. Ich beherrschte mich, schaute noch einmal auf die Gestalt, die einmal Tricia Bell gewesen war, und musste mir an diesem Sarg eingestehen, wieder einmal zweiter Sieger geworden zu sein.
***
Wir saßen noch in der Nacht in unserem Büro. Sir James war bei uns, auch Glenda war geblieben, die uns mit Kaffee, Tee und Mineralwasser versorgte.
Unsere Stimmung befand sich auf dem Tiefpunkt. Sie lag sogar unter der
Weitere Kostenlose Bücher