07 - Asche zu Asche
alles kreucht und fleucht. Würde dir das Spaß machen?«
»Au ja«, hatte sie mit strahlendem Gesicht geantwortet und hoffnungsfroh gewartet, während aus Tagen Wochen geworden waren, unerschütterlich überzeugt davon, daß ihr Vater seine Zusage einhalten würde.
Aber er hatte sich im vergangenen Oktober plötzlich verändert. Seine Versprechen waren auf einmal nichts mehr wert gewesen. Bei ihnen war er fast nur noch nervös und gereizt gewesen, unruhig, ständig auf dem Sprung, um sofort ans Telefon zu stürzen, wenn es läutete. Den einen Tag brachte er eine Laune mit, daß das kleinste falsche Wort genügte, um ihn in Wut zu bringen. Und am nächsten Tag war er total aufgedreht, als hätte er locker hundert Läufe geschafft. Jimmy hatte ein paar Wochen gebraucht, um mit etwas Detektivarbeit herauszubekommen, was seinen Vater so verändert hatte. Und als er erfahren hatte, was es war, da wußte er, daß nichts in ihrem unkonventionellen Familienleben je wieder so werden würde, wie es einmal gewesen war.
Er drückte einen Moment lang die Augen zu und konzentrierte sich auf die Geräusche. Das Schreien der Möwen, den Klang der Schritte auf dem Weg hinter dem Café, die Stimmen der schwatzenden Ausflügler, die auf den Lift warteten, der sie zur Fußgängerunterführung nach Greenwich bringen sollte, das Quietschen und Kratzen von Metall, als jemand versuchte, einen der schmutzigen Sonnenschirme aufzuspannen, die zwischen den Tischen im Freien standen.
»Weißt du, es gibt Schwarzkopfmöwen, Heringsmöwen, Polarmöwen und alle möglichen anderen Möwen«, erklärte ihm seine Schwester bereitwillig. Sie putzte ihre Brillengläser am Saum ihres Pullovers. »Aber ich möchte so gern mal eine Dreizehenmöwe sehen.«
»Ach ja? Und was ist an der so Besonderes?« Jimmy öffnete den Beutel mit Stans Cremehütchen und schob eine der Süßigkeiten in den Mund. Auf der Wiese, auf der anderen Seite eines Blumenrondells, das in Rot, Gelb und Pink leuchtete, spielte Stan ein Ein-Mann-Cricket, bei dem er Schlagmann und Werfer zugleich war. Er warf den Ball hoch in die Luft und schwang den Schläger mit wildem Enthusiasmus. Meistens traf er nicht, aber wenn er traf, schrie er jedesmal begeistert: »Der wär über die Grenze geflogen, das hätte vier Punkte gegeben. Ihr habt's gesehen, oder?«
»Die Dreizehenmöwen leben fast nur draußen auf hoher See«, klärte Sharon ihren großen Bruder auf. Sie setzte ihre Brille wieder auf. »Sie kommen ganz selten an Land, höchstens mal, um bei den Fischerbooten was abzustauben. Im Sommer - wir haben ja jetzt fast Sommer, nicht? - nisten sie an Felsküsten. Sie machen so ganz süße, kleine, runde Nester aus Erde und Gras und Fäden, und die kleben sie an die Felsen.«
»Ach? Und warum schaust du dann hier nach dieser Dreizehnermöwe?«
»Drei-Zehen-Möwe«, verbesserte sie geduldig. »Weil es was ganz Besonders wäre, hier eine zu sehen. Das wäre ein echter Knüller.« Sie hob ihren Feldstecher und suchte die Ufermauer ab, wo mehrere Möwen, ohne sich von den Spaziergängern und den Leuten, die auf den Bänken saßen, einschüchtern zu lassen, sich über die Brotkrumen hergemacht hatten, die sie ausgelegt hatte.
»Dreizehenmöwen haben schwarz-bräunliche Beine«, sagte sie. »Außerdem gelbe Schnäbel und dunkle Augen.«
»So schauen alle anderen Möwen auch aus.«
»Und beim Fliegen legen sie sich so steil in die Kurve, daß sie mit den Flügelspitzen die Wellenkämme berühren. Daran kann man sie am besten erkennen.«
»Aber hier sind keine Wellen, Shar, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte.«
»Doch, natürlich. Ich weiß schon. Darum muß man hier eben auf andere Merkmale achten.«
Jimmy nahm sich noch ein Cremehütchen. Er griff in die Tasche seiner Windjacke und holte seine Zigaretten hervor. Ohne den Feldstecher abzusetzen, sagte Sharon: »Du sollst doch nicht so viel rauchen. Das ist total ungesund. Da kriegt man Krebs.«
»Vielleicht will ich ja Krebs kriegen.«
»Wozu das denn?«
»Dann bin ich bald weg von hier.«
»Aber andere Leute kriegen auch Krebs davon. Passives Rauchen nennt man das. Hast du das gewußt? Das heißt, wenn du immer weiterrauchst, dann können Stan und ich daran sterben, weil wir dauernd den Rauch einatmen. Wenn wir viel mit dir zusammen sind.«
»Dann willst du jetzt vielleicht nicht mehr mit mir zusammen sein? Na, da werden wir beide nicht viel vermissen, oder?«
Sie senkte den Feldstecher und legte ihn auf den Tisch.
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