07 - Asche zu Asche
stand neben ihm und zupfte zaghaft mit zwei Fingern an der marineblauen Windjacke. Jimmy blickte in das zu ihm emporgewandte Gesicht. Eine Haarsträhne war Stan in die Stirn gefallen und verdeckte teilweise seine Augen. Die Nase lief, und da Jimmy kein Taschentuch dabei hatte, nahm er einfach den Saum seines T-Shirts und wischte seinem Bruder damit über die Oberlippe.
»Das ist echt widerlich«, sagte er zu Stan. »Merkst du das denn nicht, wie's tröpfelt? Kein Wunder, daß die anderen dich für 'nen Trottel halten.«
»Ich bin aber keiner«, empörte sich Stan.
»Gut, daß du's mir sagst.«
Stan preßte die Lippen zusammen, und sein Kinn bekam kleine Grübchen - wie immer, wenn er sich bemühte, nicht zu weinen.
»Schau mal«, meinte Jimmy seufzend. »Du mußt daran denken, dir die Nase zu putzen. Du mußt auf dich selbst achten. Du kannst nicht darauf warten, daß die anderen alles für dich machen. Schließlich ist ja nicht immer jemand da.«
Stans Lider zitterten. »Mam ist doch da«, flüsterte er. »Und Shar. Und du.«
»Okay, aber verlaß dich lieber nicht auf mich. Verlaß dich nicht auf Mam. Verlaß dich auf niemanden, Stan. Gib auf dich selbst acht.«
Stan nickte und holte bebend Atem. Er hob den Kopf und sah auf den Fluß hinaus. »Aus dem Segeln ist nie was geworden. Und jetzt wird wohl auch nichts mehr daraus werden. Mam geht bestimmt nicht mit uns. Weil sie das an ihn erinnern würde. Und darum kommen wir auch nie zum Segeln, oder? Oder, Jimmy?«
Jimmy wandte sich mit brennenden Augen vom Wasser ab. Er nahm seinem Bruder den Cricketball aus der Hand. Er musterte den Rasen von Island Gardens und sah, daß das Gras viel zu hoch war für ein richtiges Spielfeld. Außerdem war der Boden holprig. Es sah aus, als hätten die Maulwürfe unter den Bäumen ein Straßennetz angelegt.
»Dad wäre mit uns auf den Trainingsplatz gegangen«, sagte Stan, als hätte er Jimmys Gedanken gelesen. »Weißt du noch, wie er damals mit uns auf dem Trainingsplatz war? Wie er zu den Männern da gesagt hat: ›Der hier wird mal ein Superwerfer, der wird ein Star, und der hier schlägt wie 'ne Eins.‹ Weißt du das noch? Und dann hat er zu uns gesagt: ›So, ihr Burschen, jetzt zeigt mal, was ihr könnt.‹ Er hat sich vor dem Tor postiert und geschrieen: ›Los, einen googly! Komm, Jim. Wir wollen einen richtigen googly sehen.‹«
Jimmy drückte die Finger um den harten Lederball. »Los, mit Richtungsänderung beim Aufprall«, konnte er seinen Vater rufen hören. »Streng dich an. Wirf mit Köpfchen, Jimmy. Komm schon. Mit Köpfchen!«
Warum, fragte er sich. Wozu? Er konnte nicht sein Vater sein. Er konnte nicht nachmachen, was sein Vater getan hatte. Er wollte es auch gar nicht. Aber um mit ihm Zusammensein zu können, seinen Arm um die Schultern zu fühlen, die Wärme seiner Wange, wenn er sie einem flüchtig ans Haar drückte - dafür hätte er die tollsten Bälle geworfen, mit allem Drum und Dran und sogar Richtungsänderung beim Aufprall. Schnell, mittel und langsam. Dafür hätte er Werfen und Laufen geübt bis zum Umfallen. Wenn das notwendig war, um von ihm gemocht zu werden. Wenn das notwendig war, um ihn heimzuholen.
»Jimmy?« Stan zupfte an seiner Windjacke. »Wirfst du jetzt für mich?«
Auf der anderen Seite konnte Jimmy Shar sehen, immer noch drüben vor dem Café. Aber sie stand jetzt, den Feldstecher vor den Augen, und verfolgte den Flug eines grauweißen Vogels am Fluß entlang von Osten nach Westen. Ob es wohl eine Dreizehenmöwe war? Er wünschte es ihr.
»Der Boden ist nicht gut«, maulte Stan. »Aber es geht doch, oder, Jimmy?«
»Ja, ja, es geht schon«, erwiderte er. Er lief an dem Schild mit der Aufschrift »Ballspielen verboten« vorbei auf die Wiese und suchte eine relativ ebene Stelle unter den Maulbeerbäumen.
Das Schlagholz geschultert, rannte Stan hinter ihm her.
»Warte nur, bis du siehst, wie ich schlage«, sagte er. »Ich bin schon ganz gut. Eines Tages werde ich so gut wie Dad.«
Jimmy schluckte und bemühte sich zu vergessen, daß der Boden zu weich war, das Gras zu hoch, und daß es zu spät war, so gut zu sein wie ein anderer.
»Aufgepaßt«, sagte er zu seinem kleinen Bruder. »Jetzt zeig mal, was du kannst.«
10
Das Jackett seines Anzugs lässig über eine Schulter geworfen, trat Constable Winston Nkata in Lynleys Büro. Mit einer Hand rieb er nachdenklich über die haarfeine Narbe, die sich vom rechten Auge zum Mundwinkel durch sein kaffeebraunes Gesicht zog. Sie
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