07 - Asche zu Asche
daß ich verschwinde.«
»Das haben wir doch alles schon besprochen. Ich dachte, das hätten wir geklärt.«
»Wir haben vieles besprochen.«
»Dann besprechen wir's jetzt eben noch mal. Aber in aller Kürze. Es geht dir schlechter. Das weißt du seit Wochen. Du traust mir nicht zu, daß ich damit umgehen kann. So ist es doch, nicht wahr?«
Mit den Fingern der linken Hand versuchte sie erfolglos, den rechten Arm zu massieren, den sie wieder in ihren Schoß hatte sinken lassen. Zweifellos litt sie unter Krämpfen, aber sie besaß nicht mehr die Kraft, ihnen entgegenzuwirken. Der Kopf neigte sich zur rechten Schulter hinab, als könnte die Bewegung irgendwie den Schmerz lindern. Ihr Gesicht verzerrte sich, und schließlich sagte sie leise: »Chris. Ich hab solche Angst.«
Blitzartig war sein Zorn verflogen. Sie war zweiunddreißig Jahre alt. Sie sah ihrer eigenen Vergänglichkeit ins Auge. Sie wußte, daß der Tod kam. Und sie wußte auch, wie er sich ihrer bemächtigen würde.
Er stand auf und ging zu ihr. Er stellte sich hinter ihren Stuhl und legte seine Hände auf ihre mageren Schultern.
Auch er war nicht ahnungslos. Er war in die Bibliothek gegangen und hatte jedes Buch, jede Fachzeitschrift, jeden Zeitungs- und Zeitschriftenartikel herausgesucht, der auch nur einen Funken Aufklärung bot. Er wußte daher, daß der Prozeß der Degeneration in den Extremitäten seinen Ausgang nahm und dann gnadenlos nach oben und nach innen wanderte wie ein vordringendes Heer, das keine Gefangenen machte. Zuerst traf es Hände und Füße; Arme und Beine folgten schnell. Wenn die Krankheit schließlich das Atemsystem erreichte, würde sie zwischen sofortigem Ersticken und einem Leben am Beatmungsgerät wählen können, doch das Endresultat war immer das gleiche. So oder so würde sie sterben. Entweder früher oder später.
Er beugte sich zu ihr hinunter und drückte seine Wangen an ihr kurzgeschnittenes Haar. Es roch beißend nach Schweiß. Er hätte es ihr gestern waschen sollen, aber der Besuch von New Scotland Yard hatte jeden Gedanken, der nicht unmittelbar seine eigenen, ganz persönlichen Belange betraf, verdrängt. Egoist, dachte er. Armseliges Schwein. Er hätte gern gesagt: Hab keine Angst. Ich bin ja bei dir. Bis zum Ende. Aber diese Möglichkeit hatte sie ihm schon genommen. Darum flüsterte er statt dessen: »Ich habe auch Angst.«
Er küßte ihr Haar und fühlte, wie sich ihre Brust unter seinen Händen hob. Dann ließ ein Schauder ihren Körper erzittern.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie ich sein soll.«
»Das kriegen wir schon hin. Wir haben es doch bis jetzt auch immer geschafft.«
»Aber diesmal nicht. Es ist zu spät.« Sie fügte nicht hinzu, was er sowieso schon wußte. Daß alles viel zu spät war, wenn man starb. Statt dessen zog sie ihren bebenden Arm fest an den Körper. Sie straffte die Schultern und dann den Rücken. »Ich muß zu meiner Mutter«, sagte sie. »Bringst du mich hin?«
»Jetzt?«
»Ja, jetzt.«
14
Es war halb drei, als Lynley und Barbara Havers zum zweiten Mal vor dem Haus in Kent anhielten. Seit dem Vortag schien sich nichts verändert zu haben, außer daß die Neugierigen am Rand des Anwesens verschwunden waren. An ihrer Stelle waren fünf junge Mädchen zu sehen, die, gestiefelt und gespornt, mit Reitgerten in den Händen, auf ihren Pferden die Straße hinunterritten. Sie jedoch schien die gelbe Absperrung rund um das Haus überhaupt nicht zu interessieren. Sie ritten vorüber, ohne einen Blick an sie zu verschwenden.
Lynley und Barbara blieben neben dem Bentley stehen und ließen sie vorüberziehen. Barbara rauchte schweigend. Sie warteten auf Inspector Ardery. Nach vier Anrufen, auf der zermürbenden Fahrt von Mayfair zur Westminster-Brücke, war es Lynley endlich gelungen, sie in einem Landgasthof nicht weit von Maidstone aufzutreiben. Nachdem er seinen Namen genannt hatte, sagte sie in einem Ton, als hätte allein der Klang seiner Stimme auf sie wie ein unausgesprochener und völlig unzulässiger Tadel gewirkt, gegen den sie sich verteidigen zu müssen glaubte: »Ich habe meine Mutter zum Mittagessen ausgeführt, Inspector«, und fügte gereizt hinzu: »Es ist ihr Geburtstag. Übrigens habe ich Sie heute morgen schon angerufen.« Worauf er erwiderte: »Das weiß ich. Deswegen melde ich mich ja.«
Sie hatte ihm ihre Informationen gleich am Telefon mitteilen wollen, aber er hatte abgewehrt. Er habe seine Berichte gern vor Augen,
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