07 - Asche zu Asche
vergessen.«
»Möglich? Was denn?«
»Zu leben. Im allgemeinen kann man mit der Krankheit noch anderthalb bis sieben Jahre leben. Sagen Sie das Hawking mal. Er lebt seit mehr als dreißig Jahren damit.«
»Aber - so. Im Rollstuhl ... das kann ich nicht. Ich will nicht -«
»Sie werden sich noch wundern, was Sie alles wollen und was Sie alles können. Warten Sie ab.«
Als ich das Schlimmste wußte, mußte ich Chris verlassen. Ich würde bald nicht mehr allein zurechtkommen, und ich wollte auf keinen Fall bleiben und zum Sozialfall werden. Ich kehrte nach Little Venice zurück und begann zu packen. Ich wollte wieder nach Earl's Court und mir dort ein Zimmer suchen. Die Arbeit im Zoo würde ich behalten, solange es ging, und wenn ich das nicht mehr schaffte, würde sich etwas anderes finden. Machte es einem Kerl eigentlich was aus, mit einer Nutte zu bumsen, die ihm die Beine nicht mehr um den Hintern schlingen konnte? Deren Füße nicht mehr auf Zwölf-Zentimeter-Absätzen daherstöckeln konnten? Was wohl aus Archie und seinen Peitschen und Lederklamotten geworden war? Es waren ein paar Jahre vergangen. Würde es ihn immer noch auf Touren bringen, wenn seine unbefleckte Maria ihn in Ekstase prügelte, während über ihr selbst das Todesurteil schwebte? Vielleicht würde es ihn ja noch mehr aufgeilen, wenn er es erfuhr. Wir würden sehen.
Ich saß am Tisch in der Küche und schrieb Chris einen Brief, als er nach Hause kam. »Ich hab einen prima Auftrag in Fulham, von dem wir eine Weile gut leben können«, erzählte er. »So eine Villenumwandlung. Du solltest die Räume sehen, Livie. Sie sind -« An der Küchentür blieb er stehen und legte die Rolle mit Skizzen auf den Tisch. »Was ist denn das?« Er setzte sich rittlings auf einen Stuhl und berührte mit dem Fuß einen meiner Rucksäcke. »Nimmst du neuerdings Wäsche an?«
»Ich hau ab«, sagte ich.
»Warum?«
»Es ist Zeit. Wir gehen getrennte Wege. Seit langem schon. Begraben wir die Leiche lieber, ehe sie verrottet. Du weißt schon.«
Ich knallte einen Punkt hinter den letzten Satz, den ich geschrieben hatte, und steckte den Bleistift zu den arideren in eine neue Konservendose. Ich schob ihm den Brief hin und stand auf.
»Es stimmt also«, sagte er.
Ich hievte den ersten Rucksack auf den Rücken. »Was?«
»ALS.«
»Und wenn?«
»Sie haben es dir heute gesagt. Darum - das hier.« Er las den Brief und faltete ihn dann sorgfältig. »Du hast ›unvermeidlich‹ falsch geschrieben. Das schreibt man mit ›d‹, nicht mit ›t‹.«
»Na wenn schon«. Ich hob den zweiten Rucksack auf. »Ob ›d‹ oder ›t‹, es ändert nichts an den Tatsachen. Ein Mann und eine Frau können auf die Dauer nicht so zusammenleben.«
»›Unvermeidlich‹ hast du in deinem Brief geschrieben.«
»Du hast deine Arbeit, und ich hab -«
»ALS. Das ist doch der Grund, weshalb du gehen willst.« Er steckte den Brief ein. »Komisch, Livie. Ich hab dich nie als jemanden gesehen, der so leicht die Flinte ins Korn wirft.«
»Das tu ich doch überhaupt nicht. Ich hau nur ab. Mit der ALS hat das nichts zu tun. Es hat mit dir und mit mir zu tun. Mit dem, was ich will. Was du willst. Wer ich bin. Und wer du bist. Es klappt eben nicht.«
»Es hat mehr als vier Jahre lang geklappt.«
»Nicht für mich. Es ist -« Ich hängte mir den zweiten Rucksack über den einen Arm und den dritten über den anderen. Im Küchenfenster sah ich mein Spiegelbild: wie eine Bucklige mit Satteltaschen. »Es ist einfach nicht normal, so zu leben. Wie du und ich. Das ist pervers. Wie eine Jahrmarktssensation. Hereinspaziert, Herrschaften, schauen Sie sich das Paar ohne Unterleib an. Ich komm mir vor wie im Kloster oder so was. Das ist doch kein Leben. Ich jedenfalls schaff das nicht, okay?«
Er zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab, als er mir antwortete. »Pervers. Jahrmarkt. Ohne Unterleib. Kloster. Findest du nicht, du trägst verdächtig dick auf?« fragte er. »Zumal deine Argumente gar nicht zutreffen. Du hast doch, weiß Gott, kein Leben ohne Unterleib geführt. Es ist noch keine Woche vergangen, ohne daß du -«
»Das ist eine gemeine Lüge!« Ich schleuderte die Rucksäcke von meinen Armen und hörte das Klappern der Hundekrallen auf dem Linoleum, als Beans aus dem Arbeitszimmer hereinkam, um die Rucksäcke zu inspizieren.
»Ach ja?« Chris nahm sich aus der Schale auf der Kommode einen Apfel und polierte ihn an seinem abgetragenen Flanellhemd. »Was ist denn mit dem
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