07 - Asche zu Asche
alles gemeinsam durchstehen zu lassen. Und das ist weit mehr, als du von irgendeinem Kerl erwarten kannst, den du auf der Straße aufliest.«
Er ließ mich los. Ich hob meinen Arm, rieb die Stelle, wo seine Finger zugedrückt hatten, und starrte ihn stumm an. Mein Rücken fing an zu schmerzen von der Last der Rucksäcke, und die Muskeln in meinem rechten Bein begannen zu zucken. Er nahm sich wieder einen Apfel vor und aß ihn mit drei Bissen fertig. Dann ließ er Toast am Butzen riechen, ehe er ihn durch die Küche in die Spüle warf.
»Ich will nicht, daß du gehst«, sagt er. »Du forderst mich immer von neuem heraus, du gehst mir auf die Nerven, und du machst mich zu einem besseren Menschen, als ich bin.«
Ich trottete zum Spülbecken, holte den Apfelrest heraus und warf ihn in den Mülleimer.
»Livie. Ich möchte, daß du bleibst.«
Durch das Fenster konnte ich die Straßenlampen sehen, deren Lichter sich im Wasser des Beckens spiegelten. In den sachte schwankenden Lichtpfützen zeichneten sich die Bäume von Browning's Island ab. Ich sah auf meine Uhr. Es war fast acht. Bis ich mich nach Earl's Court durchgekämpft hatte, würde es neun sein. Mein rechtes Bein begann zu zittern.
»Am Ende werde ich nur noch ein Bündel Mensch sein«, murmelte ich. »Ohne Saft und Kraft.«
»Würdest du mich in Stich lassen, wenn ich es wäre?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber ich weiß es.«
Ich hörte, wie er vom Tisch aufstand und durch die Küche kam. Er nahm mir die Rücksäcke ab und stellte sie auf den Boden. Er legte mir den Arm um die Schultern und berührte mit seinem Mund mein Haar.
»Die Art der Liebe ist anders«, sagte er, »aber die Tatsache bleibt bestehen.«
Da bin ich geblieben. Ich hielt an meinem täglichen Gymnastik- und Fitneßprogramm fest und ging zu Heilern, die meinten, ich hätte eine Zyste, sei unfähig, Energie zu mobilisieren, reagiere auf negative atmosphärische Schwingungen. Als die Krankheit im ersten Jahr nicht über meine Beine hinaus fortgeschritten war, sagte ich mir, daß ich, wie Stephen Hawking, allen Vorhersagen auf meine eigene Weise trotzen würde. Ich fühlte mich zuversichtlich im Bewußtsein dieser Tatsache und blieb davon beschwingt bis zu dem Tag, an dem ich auf meinen Einkaufszettel hinunterblickte und sah, was aus meiner Handschrift geworden war.
Ich erzähle Ihnen das alles nicht, um Ihre Anteilnahme zu gewinnen. Ich erzähle es Ihnen, weil meine Krankheit, die ALS, zwar ein Fluch ist, jedoch auch der Grund dafür, daß ich weiß, was ich weiß. Sie ist der Grund dafür, daß ich weiß, was sonst keiner weiß. Außer meiner Mutter.
Der Klatsch blühte, als Kenneth Fleming zu Mutter nach Kensington zog. Hätte Kenneth seine Karriere als Nationalspieler nicht mit einer so demütigenden Vorstellung im Lord's gestartet, hätte sich die Regenbogenpresse wahrscheinlich überhaupt nicht um ihn gekümmert. Aber nach diesem denkwürdigen und unglaublich peinlichen Reinfall zog er die Aufmerksamkeit der Cricket-Freunde auf sich. Und da geriet dann natürlich auch Mutter ins Fadenkreuz.
Das ließ sich in der Tat prima ausschlachten - dieser Altersunterschied von vierunddreißig Jahren zwischen dem Cricket-Helden und seiner Gönnerin. Was war sie für ihn? wollte man wissen. War sie vielleicht seine leibliche Mutter, die ihn, nachdem sie ihn bei der Geburt zur Adoption freigegeben hatte, nun, da sie alt und einsam war, wieder zu sich geholt hatte? War sie seine Tante, die ihn unter einer Vielzahl von Nichten und Neffen im East End zum Nutznießer ihrer Großherzigkeit ausgewählt hatte? War sie eine gute Fee, die zuviel Geld hatte und die in den Vorstädten Londons einen hoffnungsvollen jungen Menschen suchte, über dem sie wohltätig ihren Zauberstab schwenken konnte? War sie eine neue Wohltäterin der englischen Nationalmannschaft, die sich ihre Pflichten so zu Herzen nahm, daß sie am persönlichen Leben der Spieler intimen Anteil hatte? Oder war da vielleicht etwas ein klein wenig Krankes? Eine ödipale Geschichte auf Kenneth Flemings Seite, auf die die Jokaste in Miriam Whitelaw enthusiastischer reagierte, als klug war?
Wo schliefen die beiden? wollte die Presse wissen. Lebten sie ganz allein in dem Haus zusammen? Gab es Dienstboten, die vielleicht die wahre Geschichte enthüllen würden? Eine Tageshilfe, die nicht zwei Betten machte, sondern nur eines? Und wenn sie getrennte Schlafzimmer hatten, befanden die sich dann auf einer Etage? Was hatte es zu bedeuten, daß
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