07 - Asche zu Asche
schaffen. Zuerst hatte es den Anschein, als wollte sie mich ersetzen. Sie und ich hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt; sie benutzte also Kenneth als Ersatzkind; als Kind, bei dem ihre mütterliche Fürsorge endlich Früchte tragen konnte. Dann, als die Spekulationen durch das beharrliche Schweigen der Protagonisten genährt wurden, erwachte in mir der Verdacht, daß Mutter meinen Vater ersetzen wollte. Im ersten Moment erschien die Vorstellung von Mutter und Kenneth beim Fummeln im Dunkeln völlig absurd; aber nach einer Weile, als man niemals eine andere Frau mit Kenneth in Verbindung brachte, wurde dies zur einzigen einleuchtenden Erklärung. Solange er mit Jean verheiratet blieb, konnte er Frauen seines eigenen Alters mit einem »Tut mir leid, ich bin ein verheirateter Mann« abwimmeln. Und das bewahrte ihn vor Komplikationen, die seine Verstrickung mit Mutter bedroht hätten.
Sie war, wie er selbst sagte, seine beste Freundin. Wie schwierig wird es wohl gewesen sein, als ihm an einem Abend - die Vertraulichkeit ihres Gesprächs verlangte plötzlich nach Vertraulichkeiten anderer Art - die Kameradin zur Geliebten wurde?
Er hat sie vielleicht im abendlich erleuchteten Wohnzimmer angesehen und Begierde verspürt, und dann Entsetzen über die Begierde. Um Gottes willen, sie könnte meine Mutter sein, wird er gedacht haben.
Sie wird seinen Blick mit einem Lächeln aufgenommen haben, und ihr Gesicht wird weich geworden sein. »Was ist?« hat sie gefragt. »Warum bist du plötzlich so still?«
»Nichts«, wird er geantwortet und sich mit einer Hand hastig über die Stirn gestrichen haben. »Es ist nur -«
»Was?« »Ach, nichts. Gar nichts. Es ist albern.«
»Nichts, was du sagst, ist albern, mein Junge. Jedenfalls nicht für mich.«
»›Mein Junge‹«, wird er sie nachgeäfft haben. »Ich komme mir vor wie ein Kind, wenn du das sagst.«
»Es tut mir leid. Ich sehe dich durchaus nicht als Kind, Ken.«
»Als was denn? Wie - wie siehst du mich?«
»Als Mann natürlich.«
Dann hat sie vielleicht auf die Uhr gesehen und gesagt: »Ich denke, ich gehe jetzt nach oben. Bleibst du noch eine Weile hier?«
Er wird aufgestanden sein. »Nein«, wird er geantwortet haben. »Ich gehe auch hinauf. Wenn es - dir recht ist, Miriam.«
Ah, dieses Zögern zwischen dem »Es« und dem »Dir«. Wenn das nicht gewesen wäre, hätte sie ihn möglicherweise nicht verstanden.
Mutter wird an ihm vorübergegangen, dann kurz stehengeblieben sein und nach seiner Hand gefaßt haben. »Aber natürlich ist es mir recht, Ken«, hat sie vermutlich gesagt. »Vollkommen.«
Kamerad, Seelengefährte, Geliebter. Zum erstenmal hatte Mutter, was sie wollte.
Olivia
Max war derjenige, der Mutter aufs Tapet brachte. Zehn Monate nachdem ich die Diagnose erhalten hatte, aßen wir in einem italienischen Restaurant gleich in der Nähe vom Camden Lock Market, wo Max in der großen Lagerhalle, in der sie vom Kaugummiautomaten bis zum Plüschsofa alles ausstellen, eine Stunde lang in Kartons mit ausrangierten Klamotten gewühlt hatte, die sie als alte Kostüme ausgaben. Er suchte nach einer angemessen zerlumpten Knickerbocker für eine Laientheateraufführung, bei der er Regie führte; ob als Requisit oder Kostüm, wollte er uns nicht verraten.
»Ich kann doch die Geheimnisse der Truppe nicht ausplaudern, Herrschaften«, sagte er. »Ihr müßt euch das Stück selbst ansehen.«
Schon seit einiger Zeit benutzte ich beim Gehen einen Stock - mit dem ich mich gar nicht anfreunden konnte - und wurde rascher müde, als mir recht war. Wenn ich erschöpft war, begannen meine Muskeln zu zittern, was wiederum häufig zu Krämpfen führte. Sie begannen an diesem Abend, als meine köstlich duftende Spinat-Lasagne vor mich hingestellt wurde.
Als sich beim ersten Krampf der Muskel unter meinem rechten Knie zu einem beinharten Knoten zusammenzog, stieß ich unwillkürlich einen unterdrückten Schmerzenslaut aus, drückte die Hand auf die Augen und biß mit aller Kraft die Zähne zusammen.
»Ist es so schlimm?« fragte Chris.
»Es wird schon wieder vergehen«, wehrte ich ab.
Die Lasagne dampfte vor sich hin, doch ich rührte sie immer noch nicht an. Chris schob seinen Stuhl zurück und begann mich zu massieren, das einzige, was mir überhaupt Linderung verschaffte.
»Iß lieber«, sagte ich.
»Das kann ich nachher immer noch.«
»Herrgott noch mal, ich komm schon zurecht.« Die Spasmen wurden stärker. Es waren die schlimmsten, die ich je gehabt
Weitere Kostenlose Bücher