07 - Asche zu Asche
anderen Stummel aus. »Ich muß wieder an die Arbeit. Wenn Sie mich entschuldigen.« Sie senkte den Kopf und wischte sich die Wangen, als sie an Mutter vorüberging.
»Sie sind jetzt erregt«, beharrte Mutter. »Das ist verständlich. Aber Kens Fragen sind berechtigt. Wenn Sie von ihm verlangen, daß er Ihnen seine Zukunft opfert, dann müssen Sie schon akzeptieren, wenn er sich vorher vergewissern möchte, daß -«
Sie fuhr so blitzartig herum, daß es Mutter die Sprache verschlug. »Ich verlange gar nichts. Das Kind ist von ihm, und das habe ich ihm gesagt, weil ich der Meinung bin, daß er ein Recht hat, es zu wissen. Wenn er sich entschließt, von der Schule abzugehen und zu uns zu kommen, gut. Wenn nicht, schlagen wir uns auch ohne ihn durch.«
»Aber es gibt doch noch andere Möglichkeiten«, sagte Mutter.
»Sie brauchen das Kind nicht zur Welt zu bringen. Und wenn doch, brauchen Sie es nicht zu behalten. Es gibt Tausende von Männern und Frauen, die liebend gern ein Kind adoptieren würden. Es gibt keinen Grund, ein ungewolltes Kind -«
Jean packte Mutter so fest am Arm, daß später - sie zeigte es uns am Abend beim Essen - blaue Flecken an den Stellen zurückblieben, an denen die Finger zugepackt hatten. »Nennen Sie es nicht ungewollt, Sie gemeines, altes Weib! Wagen Sie das ja nicht!«
In diesem Moment, berichtete uns Mutter mit zitternder Stimme, habe sie das wahre Gesicht der Jean Cooper gesehen. Eines Mädchens, das zu allem fähig sei, um zu erreichen, was sie wollte. Eines Mädchens, das selbst vor Gewalt nicht zurückschrecken würde, daran gab es keinen Zweifel. Sie hatte Mutter schlagen wollen, und sie hätte es auch getan, wenn nicht in diesem Moment eine Frau hereingekommen wäre und gefragt hätte: »Störe ich?«
Jean antwortete: »Nein«, schleuderte Mutters Arm zur Seite und ging.
Mutter folgte ihr. »Das wird niemals funktionieren. Mit Ihnen beiden. Jean, tun Sie ihm das nicht an. Oder warten Sie doch wenigstens -«
»- damit Sie ihn sich krallen können?« vollendete Jean.
Mutter blieb stehen, in sicherem Abstand von Jean. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Das ist ja absurd.«
Aber es war keineswegs absurd. Jean Cooper mit ihren sechzehn Jahren hatte die Zukunft vorausgesehen, wenn sie das auch seinerzeit nicht wissen konnte. Damals dachte sie wahrscheinlich nur: Ich habe gesiegt. Denn zum Ende des Trimesters verließ Kenneth die Schule. Die beiden heirateten nicht sofort. Sie überraschten vielmehr alle damit, daß sie erst fleißig arbeiteten und sparten, um schließlich sechs Monate nach der Geburt ihres ersten Sohnes Jimmy ihre Vermählung bekanntzugeben.
Von da an konnten wir in Kensington unsere Mahlzeiten in Frieden einnehmen. Von Kenneth Fleming ward nichts mehr gehört. Ich weiß nicht, wie es Dad mit diesem abrupten Versiegen des allabendlichen Tischgesprächs erging; ich persönlich brachte manch glückliche Stunde damit zu, die Tatsache zu feiern, daß der junge Gott von der Isle of Dogs sich als gewöhnlicher Sterblicher entpuppt hatte. Was Mutter anging, so ließ sie Kenneth nicht etwa einfach fallen. Das war nicht ihr Stil. Sie überredete Dad, ihn in der Druckerei zu beschäftigen, damit er einen sicheren Arbeitsplatz habe und für seine Familie sorgen könne. Aber Kenneth Fleming konnte ja nun nicht mehr als Paradebeispiel hoffnungsvoller Jugend herhalten, und darum gab es für sie auch keinen Grund mehr, Abend für Abend ihn und seine Heldentaten zu preisen.
Für Mutter war Kenneth Fleming erledigt, wie drei Jahre später ich für sie erledigt war. Mit einem Unterschied: Als sich nicht lange nach dem Tod meines Vaters die Gelegenheit dazu ergab, nahm sie ihn in Gnaden wieder auf.
Kenneth war damals sechsundzwanzig. Und Mutter sechzig.
5
»Kenneth Fleming«, schloß der ITN-Reporter mit der Feierlichkeit, die er für angemessen hielt, »starb mit zweiunddreißig Jahren. Ein schwerer Verlust für das Cricket und für alle, die diesen Sport lieben.« Die Kamera schwenkte zum verschnörkelten, schmiedeeisernen Tor von Lord's Cricket Ground, der die Kulisse für die Berichterstattung bildete. »Nach der Werbung informieren wir Sie über die Reaktionen seiner Teamkameraden und Guy Mollisons, Kapitän der englischen Nationalmannschaft.«
Jean Cooper, die bisher am Wohnzimmerfenster gestanden hatte, ging zum Fernsehgerät und schaltete es aus. Sie sah zu, wie das Bild sich zuerst an den Rändern verwischte und sich dann verdunkelte. Es schien einen Reflex auf
Weitere Kostenlose Bücher