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07 Von fremder Hand

07 Von fremder Hand

Titel: 07 Von fremder Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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irgendwie anders zu sein. Es war, als sei sie in die illuminierte Seite eines alten Manuskripts eingetaucht, und seltsamerweise war die Luft erfüllt von dem süßen Duft von Apfelblüten. Der Gedanke drängte sich ihr auf, dass sie hier - wenn sie es nur wollte - für eine Weile die Grenzen der Zeit, ja sogar der Jahreszeit, überwinden konnte.
      Winnie trat hinunter auf den Rasen, ohne auf die Feuchtigkeit zu achten, die sofort in ihre Schuhe einzudringen begann. Vor ihr lag die bezaubernde Marienkapelle, deren moosbewachsene Mauern längliche schwarze Schatten auf das Gras warfen.
      Aber sie war nicht gekommen, um die Marienkapelle zu sehen. Sie war erst kurz nach Edmunds Zeit erbaut worden, und Winnie suchte nach irgendeiner konkreten, greifbaren Verbindung zu Edmund. Sie wandte sich nach Osten, sodass der Garten zu ihrer Rechten lag. Hier bezeichneten Erhebungen im Gras den Standort der Mönchsküche, ein Mauerfragment den des Refektoriums. Im Geist begann Winnie es zu rekonstruieren. Stein um Stein wuchsen die Mauern an, die langen Eichentische füllten sich mit den Brüdern in ihren groben braunen Kutten. Sie aßen schweigend. An einem erhöhten Lesepult am Kopfende des Saales stand ein Mönch und las ihnen vor, damit ihr Geist ebenso wie der Körper erquickt werde.
      Winnie ging weiter und betrat das leicht abgesenkte Rasenquadrat, das einmal der Kreuzgang gewesen war. Hier waren die Mönche eifrig mit ihren verschiedenen Aufgaben beschäftigt, und an der Nordseite, wo das Licht am besten war, arbeiteten die Kopisten und Illuminatoren in ihren Schreibnischen. Und dort, dort saß Edmund, über eine Pergamentseite gebeugt; mit geschickter und ruhiger Hand kolorierte er eine reich verzierte Initiale in leuchtenden Farben. War er groß und blond gewesen, so wie Jack? Hatten seine Hände vom Schreibkrampf und von der Kälte geschmerzt, wenn er an den kurzen Wintertagen von morgens bis abends gearbeitet hatte? Einen Augenblick lang bildete sie sich ein, dass er vielleicht aufschauen, ihren Blick erwidern und sie erkennen würde, doch das Bild verblasste, und sie sah wieder nur das Gras, über das der Wind hinwegfegte.
      Vom Kreuzgang her betrat sie das Längsschiff der großen Kirche, und es zog sie, wie sie es vorhergesehen hatte, zum Chor hin. Als sie durch die gezackten Ruinen der Strebepfeiler des nördlichen und südlichen Querschiffs schritt, sah sie alles plötzlich so, wie es damals gewesen war. An dieser Stelle hatte sich ein gewaltiger Spitzbogen in den Himmel erhoben, auf dem das Deckengewölbe ruhte. Die verwitterten Steine der verbliebenen Mauern schimmerten golden, in den leeren Höhlen der Fenster glitzerte das farbige Glas wie Geschmeide, und schweres dunkles Eichenholzgestühl bedeckte die kahle Rasenfläche. Und auf den Bänken die Mönche, die Bewahrer eines Chorals, der über Jahrhunderte hinweg ein Geheimnis geblieben war.
      Ihre Stimmen konnte sie hören, die sich zum Lob des Herrn erhoben und einen Gobelin aus reiner Freude woben, der wirklicher war als das Gemäuer, das sie umschloss.
      In diesem Augenblick erkannte sie den Choral als das, was er war. Sie wusste, warum die Mönche bereit gewesen waren, für ihn zu sterben, und sie wusste auch, warum Edmund und Menschen wie er in dem Bemühen, ihn wiederzuerlangen, ganze Jahrhunderte durchwandert hatten.
      Jahrhundertelang hatten die Menschen nach einem Gegenstand gesucht, einem Kelch - manche hatten sogar behauptet, ihn hier in Glastonbury gefunden zu haben, verborgen in der »heiligsten Erde Englands« -, und hatten dabei übersehen, dass der Gral nur ein Symbol war für etwas, das zu gewaltig war, als dass man es in einem konkreten Gefäß hätte fassen können.
      Winnie saß im Café Galatea und hielt einen Becher dampfenden Tees in ihren durchfrorenen Händen. Sie wusste nicht mehr, wie sie aus der Abtei herausgekommen war, doch irgendwie musste sie es geschafft haben, denn jetzt war sie ja hier, und ihr altes Fahrrad lehnte draußen am Fenster. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, von ihrem Körper losgelöst zu sein, so als ob sie lange Zeit krank gewesen wäre und den Gebrauch ihrer Gliedmaßen vergessen hätte. Ihre Vision hatte bereits an Kraft verloren, und sie versuchte sich daran festzuklammern, genau wie sie den Becher umklammert hielt, doch auf einer bestimmten Ebene wusste sie, dass es unmöglich war. Es war mehr, als ein normaler Mensch über einen längeren Zeitraum ertragen konnte - war nicht Sir

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