07 Von fremder Hand
war dann nach Glastonbury zurückgefahren, in die schützenden Wände ihrer Werkstatt, und die ganze Zeit über hatte ihr Gehirn hektisch gearbeitet.
Winnie lag im Krankenhaus, und wenn die Informationen des Pfarrers korrekt waren, dann war es eher unwahrscheinlich, dass sie durchkommen würde.
Trotz der Hitze, die der mit Holz befeuerte Brennofen ausstrahlte, zitterte Garnet vor Kälte, und die Strahlen der Mittagssonne, die in einem hellen Rechteck durch die Tür der Scheune fielen, waren zu verlockend. Sie nahm ihren Schemel, stellte ihn vor die Tür, setzte sich hin und genoss dankbar die Wärme.
Die Gedanken an all das, was sie in ihrem Leben versäumt und verloren hatte, lasteten schwer auf ihr. So vieles hatte sie tun wollen, so vieles hatte sie zu erreichen gehofft; jetzt sah sie mit einem Mal die Jahre, die ihr noch blieben, dahinschwinden, zur Größe eines Stecknadelkopfes schrumpfen und dann nutzlos verlöschen - so wie das Leben eines Kindes so viele Jahre zuvor verloschen war.
Doch Faith - und Faiths Kind - hatten ihr eine unerwartete Gelegenheit zur Wiedergutmachung eröffnet.
Nach ihren Berechnungen würde Faith an Samhain niederkommen, am einunddreißigsten Oktober, dem Abend vor Allerheiligen, an dem Tag, da der Schleier zwischen den Welten am dünnsten war. Der Tor hatte das Mädchen von Beginn an angezogen - deshalb war sie ins Café und später zu Garnet gekommen. Eine solche Geburt an einem solchen Ort würde einen Zugang öffnen, würde uralte Kräfte entfesseln, die unvorstellbare Verheerungen anrichten konnten. Früher einmal hatte Garnet geglaubt, diese Energien nutzen und lenken zu können, doch die grausame Erfahrung hatte sie eines Besseren belehrt. Die Alten waren noch nie sanfte Götter gewesen, und das Wohlergehen der Menschen hatte sie noch nie gekümmert.
Der Weg war vorgezeichnet, die Zeichen unverkennbar; Faith konnte sich dem ebenso wenig entziehen, wie sie sich zwingen konnte, das Atmen einzustellen.
Garnet wusste, dass sie als Einzige das Wissen besaß, mit dem der aufziehende Sturm sich noch aufhalten ließ. Und wenn sie vergangene Nacht bei der Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hatte, versagt hatte, dann musste sie diese Last ebenfalls tragen.
Aber sie würde nicht noch einmal versagen.
* 9
Glastonbury ist ein Zugang zum Unsichtbaren... Die lange Straße von London her führt quer durch England von einer Welt in eine andere.
Dion Fortune, aus: Glastonbury
»Jack!« Mit einem fragenden Lächeln öffnete Fiona Allen die Haustür. »Geht es Winnie schon besser?«
»Sie ist immer noch nicht bei Bewusstsein. Aber ich durfte schon kurz zu ihr, und die Schwester sagt, es sei so weit alles in Ordnung.«
Fiona winkte ihn herein und sagte: »Nehmen Sie doch Platz, ich bringe Ihnen gleich etwas zu trinken.«
Jack ließ sich auf einen Stuhl sinken und rieb sich die Bartstoppeln. »Nein, danke, ich brauche nichts.« Er war einfach nur dankbar für eine kurze Ruhepause, und allein die Tatsache, dass Fiona Allen so normal war, empfand er schon als angenehm.
Auch das Haus wirkte einladend; die Inneneinrichtung hob sich deutlich von der bescheidenen Seitenfassade und dem adretten Vorgarten ab. Das geräumig wirkende, geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer war mit polierten Eichendielen ausgelegt, und die klar geschnittenen Möbel waren mit gebatiktem Baumwollstoff bezogen. Es gab Bücher und einige sorgsam platzierte Holzplastiken und Masken, aber weit und breit war kein Bild zu sehen.
Fiona, die auf einem Rattanhocker Platz genommen hatte, sagte: »Ich habe ein Dutzend Mal im Krankenhaus angerufen, aber sie wollen mir nicht viel verraten. >Den Umständen entsprechend gut< ist ein schrecklicher Euphemismus.«
»Bei Kopfverletzungen sind offenbar keine sicheren Prognosen möglich.« Er versuchte das Bild von Winnie aus seinem Kopf zu verbannen, wie sie reglos in ihrem Krankenhausbett lag. »Ich wollte mit Ihnen sprechen, Fiona - ich wollte wissen, ob Sie mir vielleicht irgendetwas über den gestrigen Abend sagen können. Können Sie sich denken, was Winnie in Ihrer Straße wollte?«
»Das ist allerdings sonderbar, nicht wahr? Sie muss auf dem Weg zu mir gewesen sein. Hier wohnt sonst niemand.«
»Wenn Sie sie nicht gefunden hätten...« Jack brach ab, er schämte sich der Tränen, die ihm plötzlich in die Augen stiegen.
»Aber das ist auch seltsam«, meinte Fiona nachdenklich.
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