070 - Komplott der toten Moerder
sondern in seinen Unterarm.
Bevor er sich fassen konnte, holte der Mann erneut aus. Thomas taumelte schmerzgequält zur Seite – das war seine Rettung. Doch der Angreifer war unglaublich schnell. Eine steinharte Handkante traf den Superintendenten an der Schulter. Es fühlte sich an, als sei er unter eine Dampf ramme geraten.
Um den Wagen herum kamen die beiden uniformierten Polizisten und Corson gerannt. Der schweigende Messerheld griff sie ohne zu zögern mit einer Wut an, als habe er an ihnen persönliche Rache zu nehmen. Ein Schuß fiel. Noch einer.
Der Angreifer stand bewegungslos da, als sei er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Er sah Corson an, der seine Dienstwaffe auf ihn gerichtet hielt. Sein Messer klapperte zu Boden. Plötzlich sank er in sich zusammen und lag bewegungslos auf dem Pflaster.
Von vorn kam jetzt auch der Fahrer des Mannschaftswagens. „Er ist mir mit seinem Wagen genau vor den Kühler gefahren, Sir“, berichtete er. „Dann sprang er raus, und wir dachten, er sei weggerannt – bis wir hörten, daß hier hinten was los war.“
Thomas dankte. Er studierte die Gesichtszüge des Erschossenen. Er drehte sich um, verglich sie mit dem ausgezehrten Gesicht seines Gefangenen, und sah wieder zu dem Toten herunter.
„Mein Bruder Mohammed!“ sagte der Gefangene tonlos. Seine Stimme klang mit einem mal ganz anders. Die Polizisten blickten durch die offene Tür ihres Einsatzwagens zu dem Mann hin, der darin klein, schäbig und zusammengesunken vor ihnen saß.
„Wer sind Sie?“ fragte Thomas.
„Ich bin … Raoul Marfadra. Der … andere, mit dem Sie gesprochen haben, bevor mein Bruder kam – der ist weg.“
„Raoul Marfadra? In Ihrem Paß steht aber ein anderer Name: Hassan Marfadra.“
„Ja, das bin ich auch.“
Corson und die uniformierten Polizisten schauten betreten drein.
Thomas wandte sich an sie. „Paßt auf ihn auf!“ Er machte ein paar langsame Schritte in die stille Straße hinein, gähnte und reckte sich.
Am Himmel war der erste fahle Schimmer des neuen Tages zu sehen. Sein Arm schmerzte, schien aber nicht sehr stark zu bluten.
„Vergessen wir Jack the Ripper“, sagte er vor sich hin. „Niemand wird das glauben, und bestrafen können wir ihn kaum. Wie bestraft man die Geister von Toten? Das erledigen überirdische Instanzen. Vergessen wir auch Landru und diesen deutschen Mörder. Wie war doch sein Name? Na, egal. Vergessen wir sie alle. Bleibt noch dieser arme Teufel in dem Wagen da. Was wird mit dem? Zuchthaus? Todeszelle? Heilanstalt? Jack the Ripper hat genau erkannt, daß Marfadra nur eine von diesen drei Möglichkeiten bleibt, wenn er einmal vor Gericht steht. Aber ich kann doch nicht einen Unschuldigen an den Galgen liefern.“ Er pfiff leise und nicht sehr melodiös vor sich hin.
Seine Leute betrachteten ihn scheu aus einer Entfernung von zwanzig Metern.
„Der Chef führt wieder Selbstgespräche“, sagte der Fahrer leise. „Da ist was am Kochen.“
Um die nächste Ecke bog mit quietschenden Reifen ein zerbeulter Volkswagen. Er wurde so wild gebremst, daß er sich direkt neben den beiden Mannschaftswagen querstellte. Heraus sprang ein baumlanger, dürrer Mann mit Schnauzbart, Halbglatze und sechs Kameras: Kriminalreporter der krawallfreudigsten Boulevardzeitung Londons.
Thomas musterte ihn finster.
„Wo ist …“, begann der Reporter.
„Erst einmal stellen Sie Ihren Wagen ordentlich an den Straßenrand“, unterbrach ihn Thomas.
Der Reporter gehorchte gleichmütig. Er stieg wieder in seinen Wagen, fuhr ihn ein Stück weiter und parkte vorschriftsmäßig.
„Was mache ich jetzt mit diesem armen Kerl im Mannschaftswagen?“ sinnierte Thomas vor sich hin. Der Reporter kam erneut auf ihn zu.
„Wo ist …“, begann er wieder. Und zum zweiten mal wurde er von Thomas unterbrochen.
„Sie können sich gratulieren, mein Lieber“, sagte Thomas. Er hob die Stimme, damit seine eigenen Leute ebenfalls hören konnten, was er sagte. „Da drüben liegt der Londoner Frauenmörder erschossen auf dem Pflaster. Ich würde es begrüßen, mein Lieber, wenn Sie auch notieren wollten, daß wir ihn keine vierundzwanzig Stunden nach seiner letzten Tat gefaßt haben. Sein Name ist: Mohammed Marfadra. Was er hier in London sonst noch getrieben hat, wie er hergekommen ist, wie alt und so weiter, das werden wir noch ermitteln. Na, wollen Sie nicht fotografieren? Er liegt doch für Sie gerade richtig, mit dem Gesicht nach oben.“ Der Reporter bemerkte den
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