070 - Schreie des Grauens
glaubte, den heißen, stinkenden Atem in ihrem Nacken zu spüren. Sekunden später kamen schwere und unsichere Schritte den Seitengang hinunter. Sie erkannte sie, aber sie wagte es nicht, sich woanders hinzusetzen oder sich umzudrehen. Den Schritten und leisen Geräuschen nach zu urteilen, setzte sich der Neuankömmling neben den aufgeregten Lüstling. Der Lüstling rückte einen Platz näher an die junge Frau heran. Der Mann neben ihm folgte. Renata war vor Schrecken wie gelähmt; nicht nur vor Schrecken; sondern in Erwartung von etwas noch Schrecklicherem.
Sie sah und hörte den Film nicht mehr. Die Bilder rasten an ihr vorbei, ohne daß sie etwas verstand. Sie zitterte am ganzen Körper.
Dann, ganz plötzlich, hörte sie über den Lärm aus den Lautsprechern den aufgeregten Dialog der Darsteller und die Lachsalven des Publikums hinweg ein gieriges Röcheln. Unmittelbar danach war Schmatzen, Gurgeln und Keuchen zu hören.
Sie wußte, was hinter ihr vorging.
Fred hatte den Lüstling überfallen und seine Zähne in dessen Hals geschlagen. Unbemerkt vom Publikum, das über Woody Allen brüllte, saugte er das Blut und des Leben aus dem Mann.
Zitternd hockte Renata in ihrem Sessel, kroch immer tiefer hinein und hörte hinter sich die verhaßte Stimme: „Ich mag nicht, daß er dich anstarrt. Männer sollen dich nicht so ansehen."
Sie drehte sich nicht um. Sie wollte nichts sehen; und sie konnte auch nichts sehen. Sie stand auf, mit einem letzten Rest von Energie und Beherrschung..
„Ich strafe sie, wenn sie dich so gierig anstarren", keuchte und röchelte die Stimme hinter ihr.
Sie ging schneller. Zweimal schlug sie sich das Schienbein an einem hochgeklappten Sitz an. Sie stolperte über die Füße von Sitzenden und riß die Tür auf. Grelles Sonnenlicht flutete in den Raum. „Verrückt geworden? Tür zu! Schnell!" schrien ein paar Zuschauer.
„Rein oder raus!"
Sie ließ die Ausgangstür offenstehen und rannte davon. Hinter ihr hörte sie die Stimmen der aufgebrachten Zuschauer. Und in Gedanken sah sie den ausgesaugten Lüstling und die Fratze ihres privaten Dämonen, ihres unheimlichen Sklavenmeisters.
Seine Stimme flüsterte in ihren Gedanken: Ich mag es nicht, wenn dich fremde Männer so anstarren. Ich bin dir nachgeschlichen. Ich schleiche dir oft nach. Und ich habe ihn gesehen und zu meinem Opfer gemacht.
Es war nicht der erste Mord. Und es würde nicht der letzte sein.
Dorian zwang sich zur Geduld. Er blickte auf die Uhr. Es war kurz nach elf. Er saß mit dem Rücken zur Bar, um nicht ununterbrochen in den verwegenen Ausschnitt des Barmädchens starren zu müssen.
Was suchte er hier? Er gab sich selbst die Antwort. Er suchte Maria Renata Leyser. Allerdings wußte er nicht einmal, wie sie aussah. Er wußte nur, daß sie kurzes, rotbraunes Haar hatte und schön sein sollte.
Der Bourbon schmeckte nicht besonders. Er beschloß, die Bar zu wechseln.
„Verdammt!" sagte er unlustig.
Er kam nicht weiter. Die verschiedenen Eindrücke, die er im Laufe dieses halben Tages gesammelt hatte, ließen vielerlei Spekulationen zu, ergaben aber kein vernünftiges Bild. Er wußte nicht, woran er war.
Unschlüssig trank er das Glas fast leer und bestellte einen neuen Drink; Diesmal seine Marke ohne Eis. Er zahlte zuviel dafür und ärgerte sich. Seine Blicke glitten durch den Raum und suchten. Er sah die Mädchen. Alle waren viel zu jung für ihn. Sekundenlang fühlte er sich wie ein Greis, bis er sich daran erinnerte, was er wußte, erlebt hatte und konnte. Die Mädchen waren fast alle süß, appetitlich und etwa so sinnlich wie ein neugeborenes Kälbchen. Der Beat dröhnte ohne Unterlaß. Die jungen Männer lehnten und lümmelten uninteressiert herum und tranken Bier. Jede Form der Unterhaltung war vollkommen unmöglich.
Dorian zündete sich langsam eine Players an und stützte die Ellbogen auf das Holz der Theke. Niemand beachtete ihn, abgesehen von den Mädchen hinter der Bar, die einen guten Kunden in ihm vermuteten.
Eine höchst unbefriedigende Situation, dachte er mit einem Anflug von Weltschmerz, dann wandte er sich an das Mädchen hinter dem Tresen.
„Eine Frage", brüllte er und hob die Brauen.
„Ja? Was darf s denn sein?" schrie das Mädchen zurück und beugte sich weit vor.
Dorian grinste und zwinkerte ihr zu.
„Diese Holzschnitzereiverkäuferin - war sie schon da?"
„Wie? Was wollen Sie?" schrie das Mädchen mit verzerrtem Gesicht zurück.
Die Gläser klirrten. Dorian wiederholte seine
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