0700 - Aphilie
Anthropologen. Ich habe sie befragt und die Antwort bekommen, die ich eigentlich erwartete.
Das, was uns von den dekadenten Menschen rings um uns trennt, ist mehr als eine vorübergehende Laune der Natur. Es ist nicht nur eine Modifikation, sondern eine echte, vererbbare Mutation. In uns, Brüder und Schwestern, entsteht eine neue Art: der vernünftige Mensch. Die Anthropologen haben dieser unserer neuen Art einen wissenschaftlichen Namen gegeben. Wir sind dem dekadenten Menschen überlegen. Wir sind die neue höchstentwickelte Art des Kosmos. Der Name bringt unsere Überlegenheit zum Ausdruck: Homo sapientior."
Und merkwürdig: da war plötzlich ein Raunen in dem halbdunklen Raum. Die Brüder und Schwestern hatten sich zu rühren begonnen. Nicht tosender Beifall war es, der dem Redner dankte, sondern dumpfes Gemurmel. Die Maskierten empfanden keinerlei Hochstimmung. Sie waren nicht stolz auf den neuen Rang, den die Anthropologen ihnen zugebilligt hatten, und sie empfanden keine Verachtung für die „armen Dekadenten", die das Licht der reinen Vernunft noch nicht gesehen hatten. Denn sie kannten keine Gefühle: weder Stolz, noch Verachtung - weder Liebe, noch Haß. Nur eines empfanden sie.
Ihre Überlegenheit über die Dekadenten war ihnen soeben von Amts wegen bestätigt worden. Nichts konnte sie mehr aufhalten.
Der Anschlag An diesem Tag empfand Vater Ironside kein Verlangen, das Heim der Brüder des Hl. Franziskus zu verlassen. Die Gedanken, die seinen Verstand bewegten, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.
Er brauchte Antworten auf Fragen, die er sich noch niemals zuvor in seinem Leben hatte zu stellen brauchen. Er begann zu lesen. Das Heim verfügte über eine umfangreiche Bibliothek, in winzigen Abbildern in einem holographischen Archiv gespeichert.
Die Technologie hatte auch vor den Türen der Mönche nicht haltgemacht. Die Mission der Franziskaner in Terrania-City war nur eine kleine, unbedeutende Einrichtung, und dennoch waren in ihrer Bibliothek mehr Informationen vereinigt als in den Büchereien des Vatikans vor fünfzehnhundert Jahren - und das auf einem Raum, der kaum größer war als ein geräumiges Zimmer.
Vater Ironside verbrachte den größten Teil des Tages an einem Sichtgerät, von dem aus er die Texte, die er zu lesen gedachte, aus der Bibliothek abrufen konnte. Die Stunden flossen dahin.
Ironside las die einfachen Sätze, in denen die Weisheit der Alten zum Ausdruck kam, ebenso wie die komplizierten Wortgebilde, deren sich die modernen Forscher bedienten.
Er setzte keine Wertmaßstäbe. Er las alles, was ihm im Zusammenhang mit seinen Fragen wichtig zu sein schien, und allmählich spürte er, wie die Beklemmung sich legte, in der er sich die ganze Nacht und den größten Teil des Tages über befunden hatte.
Ihm war eine Antwort zuteil geworden. Seine Zweifel waren beseitigt. Der, in dessen Dienst er stand, hatte ihn an seiner Weisheit teilnehmen lassen und ihm die Augen geöffnet. In gelöster Stimmung empfing Ironside den Bruder Serafino, der sich den ganzen Tag über in rührender Sorge um sein leibliches Wohl gekümmert hatte.
„Es ist Zeit zum Abendessen", mahnte Serafino.
„Du hast mich heute schon so vollgestopft", beschwerte sich Ironside gut gelaunt, „daß ich nicht weiß, wo ich ein Abendessen noch hinpacken soll. Aber ich mache dir ein Angebot: wir essen zusammen, dann entwickle ich mehr Appetit!"
„Oh, das wird leider nicht gehen", klagte Serafino. „Draußen steht nämlich einer und möchte dich sprechen. Er sieht genauso verloren aus wie der, der vor zwei Tagen hier war, und wahrscheinlich wird er dich ziemlich lange in Anspruch nehmen."
Ironsides Interesse war sofort wach.
„Wo ist der Mann? Bitte, schick ihn herein, Bruder!"
Serafino ging. Kurze Zeit später erschien unter der offenen Tür ein junger Mensch, breitschultrig und hochgewachsen, in eine blaugraue Montur gekleidet, die ihm nicht sonderlich gut zu Gesicht stand. Serafino hatte recht: er schaute ebenso trostlos drein wie zwei Tage zuvor Silas Pranther. Aber gleichzeitig war da etwas in seinen Augen, das Vater Ironside sich nicht zu erklären vermochte.
„Wer schickt dich zu mir, mein Sohn?" fragte er freundlich.
„Niemand", lautete die nicht eben freundliche Antwort. „Ich habe deine Adresse erfahren und bin gekommen, um mir Rat zu holen."
„Wer sagte dir meine Anschrift?"
„Silas Pranther."
„Ah! Du weißt, wo er sich aufhält?"
„Ich wußte es gestern, jetzt nicht mehr."
„Was ist
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