0702 - Das Stummhaus
daß er umsonst gehofft hatte. Er blieb ganz ruhig, als er den Plastikstreifen aus dem Behälter nahm und die Botschaft las.
Ebenfalls das 23. Stummhaus und bereits morgen.
Zur gleichen Zeit wie Kathleen Toaklander.
Gestern noch fest entschlossen, der Aufforderung Folge zu leisten, dachte er plötzlich ganz anders. Er schob es auf die Tatsache, daß man ihm nur noch eine Nacht ließ, keine zwei.
Seit langer Zeit verließ er wieder sein Zimmer, die Vorladung in der Hand, und klopfte an Kathleens Tür. Sie öffnete, sah den Streifen in seiner Hand und winkte ihn zu sich herein.
„Jetzt können wir sachlich miteinander reden", meinte sie, als er sich gesetzt hatte. „Du bist in der gleichen Lage wie ich, da kann man objektiver urteilen. Gehst du mit mir? Ich breche noch heute abend auf. Lebensmittel habe ich für einige Zeit, denn ich habe mir immer etwas zurückgelegt. Verhungern werden wir also nicht gleich."
„Glaubst du wirklich, daß es einen Sinn hat, ihnen entkommen zu wollen?"
Sie schüttelte energisch den Kopf.
„Es wird zumindest den Sinn haben, daß wir uns nicht freiwillig in ein vorprogrammiertes Schicksal ergeben und einige Tage wirklich frei sind. Vielleicht kümmert sich auch keiner um uns - wer weiß?"
„Es haben schon manche versucht, dem Stummhaus zu entfliehen. Sie wurden alle gefangen."
„Nicht alle, Kervin! Ich weiß, daß viele für immer in der Steppe untertauchen. Und hast du nie von den Immunen gehört?"
Er nickte zögernd.
„Wer hat nicht von ihnen gehört, Kathleen? Aber sie haben mehr zu tun, als sich um die Alten zu kümmern, die vor dem Stummhaus davonliefen. Sie kennen Liebe und Zuneigung und handeln nach Emotionen, nicht nur nach den Gesetzen der Logik, so wie wir, Ich bedaure sie.
„Aber sie können uns helfen, Kervin, vergiß das nicht."
„Und du willst noch heute aufbrechen?"
„Morgen ist es zu spät Wenn wir nicht beim Stummhaus eintreffen, wird man uns suchen. Dann müssen wir schon weit fort sein."
„Ich habe keine Lebensmittel gespeichert."
„Meine reichen für ein paar Tage. Außerdem besitze ich ein wenig Geld, das uns weiterhelfen wird. Draußen gibt es einsame Siedlungen, und für Geld bekommt man alles."
„Auch ich habe gespart." Sie lächelte müde.
„Na also, dann brechen wir auf, sobald die Sonne untergegangen ist. Jeder wird glauben, wir unternehmen einen Spaziergang. Vielleicht nimmt uns auch einer der vielen Transporter mit, die nach Norden fahren. Die Männer in ihnen stellen keine Fragen."
„Woher weißt du das alles, Kathleen?"
Sie lächelte noch immer.
„Weißt du, Kervin, ich rechne schon lange mit dem Stummhaus und habe mich erkundigt. Wenn du mich wochenlang nicht gesehen hast, war ich unterwegs. Ein Bruder von mir nahm die Tagesration in Empfang und aß sie auf. Immerhin fiel so meine Abwesenheit nicht auf, denn wir Alten werden nicht so kontrolliert wie die anderen, die noch arbeiten. Ich kenne die Steppe, einige Siedlungen und auch die Berge. Wenn wir die Höhlen finden, sind wir in Sicherheit."
„Du bist eine kluge Frau", erkannte er an.
„Vor allem bin ich eine logisch denkende Frau", versicherte sie und deutete zur Tür. „Und nun verschwinde in deiner Wohnung und lasse dir nichts anmerken. Nimm noch deine Tagesration in Empfang und die Rente, die heute eintrifft. Wir brechen zur angegebenen Zeit auf."
*
Noch am gleichen Nachmittag verließ Kervin den Wohnsilo und machte einen Spaziergang. Sein Ziel war das Stummhaus Nr.23 und die nähere Umgebung. Er wollte es sich ansehen.
Ein Schauder packte ihn, als er die hohen, grauen Mauern sah, die den Komplex einschlossen, in dem er keine Fenster entdecken konnte. Nur ein breites Tor führte in die Anlage hinein, das fest verschlossen war und vor dem kein Wächter stand, wie er es fast erwartet hatte. Stumm und schweigend lag der Betonblock da, als berge er nicht die geringste Spur von Leben.
Vielleicht gab es auch wirklich kein Leben darin...
Er wandte sich ab und kehrte zum Wohnsilo zurück. Jetzt war sein Entschluß gefaßt. Niemals würde er freiwillig in das Stummhaus gehen. Lieber wollte er draußen in der Steppe verhungern oder verdursten. Aber das würde nicht geschehen, denn er ging mit Kathleen. Und auch im Norden und Osten gab es Menschen, die den Wert des Geldes kannten.
Später saß er wieder am Fenster und sah hinaus. Er nahm noch einmal das Bild in sich auf, daß er schon lange kannte.
Da waren die grauen, nüchternen Wände der Hochhäuser,
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