0707 - Im Schatten des Vampirs
konnte er ihm nicht. Eher hätte er einem Blinden Farben oder einem Tauben Musik erklären können, als die Gesetze der Magie an einen Außenstehenden zu vermitteln.
Trotzdem versuchte er es.
»Das ist eine sehr schwierige Frage«, sagte er. »Und ich bin nicht sicher, ob du die Antwort verstehen wirst. Für mich ist Magie wie die Farbpalette eines Malers. Sie ist ein Werkzeug, mit dem aus bloßen Gedanken Wirklichkeit wird. Manche von uns malen nur mit schwarzer Farbe, andere nur mit weißer, aber die Größten unter uns verwenden die ganze Palette, lassen die Farben ineinander laufen und erschaffen strahlende Kunstwerke, die Jahrtausende überdauern. Die Farbpalette ist real, Jack, auch für dich. Um sie zu benutzen brauchst du jedoch Pinsel, die so abstrakt sind wie ein Wunsch oder eine Hoffnung.«
O’Neill seufzte. »Dann sollte ich wohl besser mit Fingerfarben anfangen.«
Er warf einen Blick auf die Karte, die er neben dem Lenkrad zusammengefaltet hatte und bog in eine Seitenstraße ein. Nach einigen Metern stoppte er den Wagen.
»Adresse Nummer siebzehn von zweiundvierzig«, sagte er, »vielleicht haben wir ja dieses Mal Glück.«
Fu Long wollte aussteigen, aber O'Neill hielt ihn zurück. »Eine Frage hätte ich allerdings noch. Was würde passieren, wenn alles schief geht und dieser Kuang-shi tatsächlich erwacht?«
Der Vampir betrachtete die halb verfallene Villa, vor der sie gestoppt hatten. Grünpflanzen rankten sich um einen verrosteten Zaun. Die Einfahrt wurde von einem alten grauen Buick Century blockiert.
»Wenn Kuang-shi erwacht, Jack, wird er wie ein furchtbarer Sturm über die Menschheit kommen. Nichts von dem, was ihr erschaffen habt, wird übrig bleiben.«
O’Neill schluckte hörbar. »Dann sollten wir dafür sorgen, dass das nicht passiert.«
***
Nicole fluchte leise. Zamorra befand sich keine dreißig Meter von ihr entfernt auf der anderen Seite des Platzes, aber er hätte ebenso gut auf einem anderen Planeten sein können, denn sie verfügte über keine Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu treten. Die Vampire, die sich immer noch suchend umsahen, hätten das sofort bemerkt.
Kurz fragte sie sich, weshalb auch er in diesem Traum aufgetaucht war.
Bis jetzt hatte sie der Tatsache, dass die Träumenden größtenteils Asiaten waren, keine Bedeutung zugemessen, aber nun schien es eine Verbindung zwischen den Todesfällen auf der chinesischen Bohrinsel und den Aufgetauchten in L. A. zu geben.
Aber wenn Zamorra ebenso wie sie durch einen Zufall in den Traum geraten war, warum gehörte er denn nicht zu den Robenträgern? War es möglich, dass jedem Träumenden eine andere Rolle zugewiesen wurde? Wenn das stimmte, dann waren nicht nur die Menschen, sondern auch die Vampire und das seltsame Wesen mit dem Paviankopf Traumgestalten, deren Körper sich immer noch in der realen Welt befanden.
Ich muss mit Zamorra reden, dachte sie. Ihr Blick suchte die Umgebung ab. Auf dem Platz selbst gab es keine Deckung, und die Häuser, die ihn umgaben, waren zu weit entfernt. Nicole sah sehnsüchtig zu den gewölbten Dächern, die fast lückenlos ineinander übergingen. Es wäre ein Leichtes gewesen, über sie bis zur anderen Seite des Platzes zu gelangen. Dort oben suchte niemand nach den Robenträgern.
Sie duckte sich, als ein Vampir sich plötzlich umdrehte und auf sie zukam. Nicole hörte das Geräusch seiner Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster, dann ein Rascheln. Sekunden später entfernten sich die Geräusche.
Vorsichtig hob Nicole den Kopf und bemerkte, dass mehrere Papierlaternen aus der seitlichen Auslage des Ladens verschwunden waren. Anscheinend hatte der Soldat sie an sich genommen. Sie wollte sich gerade abwenden, als ihr etwas anderes auffiel: ein runder Holzknauf in der Wand, der aussah, als gehöre er zu einer Tür.
Nicole sah zurück auf den Platz, wo Zamorra von seinem Pferd abgestiegen war und sich mit dem Affenköpfigen unterhielt. Der Soldat mit den Laternen ging auf die beiden zu. Es sah so aus, als wollten sie in die Pagode. Waren sie erst einmal im Inneren, hatte sie keine Chance mehr, auf sich aufmerksam zu machen.
Dieser Gedanke gab den Ausschlag. Nicole griff nach dem Knauf und drückte. Das alte Holz knarrte, doch dann schwang eine schmale Tür auf und gab den Blick auf meterhoch gestapeltes Holzspielzeug frei.
Das ist der nächste Stand, dachte sie erleichtert. Sie sind alle miteinander verbunden.
Geduckt ging sie hindurch. Jetzt, wo sie wusste, wonach sie suchte, war es
Weitere Kostenlose Bücher